- 291 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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im »Schneekapitel« dieses Romans blickt der träumende Hans Castorp zunächst auf einen schönen Jüngling, der Hermes und Narziß zugleich ist, bevor dieser ihn schließlich in seiner versunkenen Betrachtung einer elysischen Landschaft auf das todesdrohende Bild eines archaischen Schlachtungsritus hinter ihm weist. So wie dort Schönheit und Tod, Idylle und Angstbild unmittelbar miteinander verzahnt sind und in der Wahrnehmung des Protagonisten randscharf aufeinandertreffen, so werden sie auch hier verbunden.189
189 Renner 1987, S. 151–152.
Das Adagietto macht diese motivische Verzahnung durch die ihm mittlerweile eigene Semantisierung wiederum hörbar. Es suggeriert hier erneut das Nirwana-Motiv als auch die Motive von Tod und Verfall, denn die schwelenden Feuer, die überall in der völlig verfallenen und schmutzigen Stadt brennen, deuten auf Vorsichtsmaßnahmen gegen die Seuche hin. Bis zum Takt 38 des ersten Themas ist die Musik trotz ihrer Semantisierung durch den Film von ihrem melodischen Gestus her kontrapunktisch gegenüber der visuellen Ebene, da die Schönheit und Labilität des ersten Themas wiederum mit dem allgemeinen Verfall Venedigs konfrontiert wird. Mit dem zweiten Moll-Thema in Takt 38 wird das Adagietto jedoch zur affirmativen Paraphrasierung: der depressive Weltschmerz in Mahlers Einbruch in die »dunkle Seite des Lebens« kommentiert zugleich die visuelle Ebene: Tadzio geht langsam eine verfallene Gasse entlang, die Visconti in triste Grau- und Blautöne taucht. Tadzios zögernder Gang – er wartet auf Aschenbach und lockt ihn förmlich – wird musikalisch in jenem labilen Stimmenkreisen des zweiten Themas in den Takten 44 bis 47 reflektiert. Während der gesamten Sequenz vermischt sich die unterschwellige Geräuschkulisse, die vornehmlich aus dem Feuerknistern besteht, mit der Musik. Bis auf den Namen »Tadzio« wird kein Wort gesprochen, die Musik wird wie in der dritten Sequenz zum alleinigen »Wortträger.« In der 19. Einstellung bleibt Tadzio im Rauch des Feuers stehen. Die Kamera erfaßt ihn von weitem zunächst in der Halbtotalen. Die Musik wird hier zur dramaturgischen Bildinterpretation im Sinne Thiels: die Ziellosigkeit der Melodie, die unschlüssig auf einer Viertel oder Halben verweilt, anschließend »weiterkreist« in harmonischer Unbestimmtheit ist ein Spiegel der Bewegungen von Tadzio und Aschenbach. Sowie die Melodie auf der punktierten Viertel (Takt 45) verweilt, zögert auch Tadzio. Sowie wie die Melodie kein Ziel erreicht, so ist es auch für Aschenbach unmöglich, dem Objekt seiner voyeuristischen Begierde nachzukommen, letztlich seine Jugend zurückzugewinnen. Im Rauch des Feuers (Einstellung 19) wirkt er wie eine unerreichbare Erscheinung. Er nimmt immer mehr die Züge eines Todesengels an, der im Rauch der Desinfektionsfeuer verschwindet. Mit dem Beginn des dritten Themas (Takt 50), das Mahler nun langsam unermüdlich steigert, beginnt Aschenbachs krankhafte Verfolgung, in die er sich bis zur Groteske hineinsteigert. Auch Tadzios Gouvernante empfindet seine Leidenschaft als lästig und krankhaft und scheint mit dem Kindern vor ihm zu flüchten. Die Unschlüssigkeit der Gouvernante, welchen Weg sie nun einschlagen soll und ihre Bewegungen in die eine und die andere Richtung stimmen unmittelbar mit den Bewegungen der Melodie in den Takten 58 und 59 überein, in denen Mahler die Melodie gleich zweimal unschlüssig in einer Steigerung kreisen läßt, bis sie sich in Takt 60 in einer Abwärtsbewegung auflöst. Ein Hinweis darauf, daß der Film ganz offensichtlich nach dem Takt der Musik geschnitten wurde. Aschenbach,

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