im
»Schneekapitel« dieses Romans blickt der träumende Hans Castorp zunächst auf einen
schönen Jüngling, der Hermes und Narziß zugleich ist, bevor dieser ihn schließlich in
seiner versunkenen Betrachtung einer elysischen Landschaft auf das todesdrohende Bild
eines archaischen Schlachtungsritus hinter ihm weist. So wie dort Schönheit und
Tod, Idylle und Angstbild unmittelbar miteinander verzahnt sind und in der
Wahrnehmung des Protagonisten randscharf aufeinandertreffen, so werden sie auch hier
verbunden.189
189 Renner 1987, S. 151–152.
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Das Adagietto macht diese motivische Verzahnung durch die ihm mittlerweile eigene
Semantisierung wiederum hörbar. Es suggeriert hier erneut das Nirwana-Motiv als auch
die Motive von Tod und Verfall, denn die schwelenden Feuer, die überall in der völlig
verfallenen und schmutzigen Stadt brennen, deuten auf Vorsichtsmaßnahmen gegen die
Seuche hin. Bis zum Takt 38 des ersten Themas ist die Musik trotz ihrer Semantisierung
durch den Film von ihrem melodischen Gestus her kontrapunktisch gegenüber der
visuellen Ebene, da die Schönheit und Labilität des ersten Themas wiederum mit dem
allgemeinen Verfall Venedigs konfrontiert wird. Mit dem zweiten Moll-Thema in Takt 38
wird das Adagietto jedoch zur affirmativen Paraphrasierung: der depressive
Weltschmerz in Mahlers Einbruch in die »dunkle Seite des Lebens« kommentiert
zugleich die visuelle Ebene: Tadzio geht langsam eine verfallene Gasse entlang, die
Visconti in triste Grau- und Blautöne taucht. Tadzios zögernder Gang – er
wartet auf Aschenbach und lockt ihn förmlich – wird musikalisch in jenem
labilen Stimmenkreisen des zweiten Themas in den Takten 44 bis 47 reflektiert.
Während der gesamten Sequenz vermischt sich die unterschwellige Geräuschkulisse,
die vornehmlich aus dem Feuerknistern besteht, mit der Musik. Bis auf den
Namen »Tadzio« wird kein Wort gesprochen, die Musik wird wie in der dritten
Sequenz zum alleinigen »Wortträger.« In der 19. Einstellung bleibt Tadzio im
Rauch des Feuers stehen. Die Kamera erfaßt ihn von weitem zunächst in der
Halbtotalen. Die Musik wird hier zur dramaturgischen Bildinterpretation im
Sinne Thiels: die Ziellosigkeit der Melodie, die unschlüssig auf einer Viertel oder
Halben verweilt, anschließend »weiterkreist« in harmonischer Unbestimmtheit ist
ein Spiegel der Bewegungen von Tadzio und Aschenbach. Sowie die Melodie
auf der punktierten Viertel (Takt 45) verweilt, zögert auch Tadzio. Sowie wie
die Melodie kein Ziel erreicht, so ist es auch für Aschenbach unmöglich, dem
Objekt seiner voyeuristischen Begierde nachzukommen, letztlich seine Jugend
zurückzugewinnen. Im Rauch des Feuers (Einstellung 19) wirkt er wie eine unerreichbare
Erscheinung. Er nimmt immer mehr die Züge eines Todesengels an, der im
Rauch der Desinfektionsfeuer verschwindet. Mit dem Beginn des dritten Themas
(Takt 50), das Mahler nun langsam unermüdlich steigert, beginnt Aschenbachs
krankhafte Verfolgung, in die er sich bis zur Groteske hineinsteigert. Auch
Tadzios Gouvernante empfindet seine Leidenschaft als lästig und krankhaft
und scheint mit dem Kindern vor ihm zu flüchten. Die Unschlüssigkeit der
Gouvernante, welchen Weg sie nun einschlagen soll und ihre Bewegungen in
die eine und die andere Richtung stimmen unmittelbar mit den Bewegungen
der Melodie in den Takten 58 und 59 überein, in denen Mahler die Melodie
gleich zweimal unschlüssig in einer Steigerung kreisen läßt, bis sie sich in Takt
60 in einer Abwärtsbewegung auflöst. Ein Hinweis darauf, daß der Film ganz
offensichtlich nach dem Takt der Musik geschnitten wurde. Aschenbach,
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