- 290 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Schönheit wird nunmehr als falsch und unmöglich deklariert. Falschheit- und Todesmotiv vereinigen sich in dem Adagietto. Der Höhepunkt der Groteske ist auch ein Höhepunkt des ersten Themas in Takt 30: Die Worte des Friseurs »Und nun dürfen Sie sich verlieben. . . in wen Sie wollen, Signore!« sind geschäftstüchtig und ironisch zugleich und liegen exakt auf dem Quartsextakkord in Takt 30, ähnlich wie das Schiff, das Aschenbach in der ersten Sequenz nach Venedig bringt, das auf diesem Akkord durch das Bild fährt. Die Antizipation, die die Musik in der ersten Sequenz geleistet hat, wird nun an dieser Stelle eingelöst: der Begriff der Schönheit wird umgekehrt ins Groteske und in vollkommene Absurdität. In den darauffolgenden Einstellungen in den dunklen, schmutzigen Gassen Venedigs, durch die Aschenbach Tadzio folgt, wird das Liebesmotiv neben dem Motiv von Tod und Verfall dominant. Aschenbachs Liebe hat sich in einen Wahn gesteigert. Bezeichnend ist hier die Rolle der Semantisierung in bezug auf Mahlers Person. Die Semantisierung durch die Persönlichkeit Mahlers erreicht mit der Sequenz, in der Aschenbach sein Meisterwerk schreibt, ihren Höhepunkt: Harmonie und Geist sind in Aschenbach in absoluter Harmonie vereint, ähnlich wie in Mahlers Kompositionen. Somit sind Exposition, Steigerung und Höhepunkt der Handlung durch die zunehmende Semantisierung durch den Mahlerischen Kontext gekennzeichnet, die in der Sequenz, in der Visconti Mahlers dritte Sinfonie zitiert, ihren Höhepunkt erreicht.187
187 Vgl. Kap. 11.1.4.1 und 11.1.4.2.
Mit dem Fall der Handlung jedoch die Semantisierung des Zitats durch den Film dominant. Aschenbachs Jugend wird durch das Leitmotiv als falsch und dekadent enttarnt, eine Folge der zunehmenden Semantisierung des Adagiettos mit den Motiven von Tod, Verfall, Dekadenz und Falschheit. Die Funktion des Zitats ist daher in allen folgenden Sequenzen nicht mehr ausschließlich durch seinen eigenen Kontext geprägt – Mahlers Diskrepanz zwischen Leben und Tod klingt ja auch hier an – sondern bereits durch die eigene Semantisierung des Films. Die Schönheit und Ruhe des Satzes wird mit Dekadenz und Verfall, letztlich mit dem Tod verbunden, ein semantischer Gehalt, der im originalen Kontext zwar durch die Person Mahlers anklingt und Exposition, Steigerung und Höhepunkt der Dramaturgie semantisiert, sich jedoch nicht mehr ausschließlich und explizit auf die Bedeutung des Satzes bezieht.

In Takt 33 erfolgt der nächste Schnitt. Die Kamera erfaßt zunächst die Wasseroberfläche des schmutzigen Kanals, in der sich die polnische Familie in der Märchensilhouette Venedigs und schließlich Aschenbach selbst widerspiegeln. Das Spiegelbild deutet damit auf seine eigene Wahrnehmung. Die Nachzeichnung seiner psychogenetischen Spur wechselt im Film ständig zwischen klar gezeichneten Bildeinstellungen und mythologisierenden Bildkompositionen.188

188 Renner 1987, S. 151.
Die vorliegende Einstellung ist ein markantes Beispiel für diese doppelte Optik, denn sie deutet – wie auch die vorherige Einstellung des Spiegelbildes von Aschenbach – unmißverständlich auf Narziß, welcher der Überlieferung zufolge sein eigenes Spiegelbild im Wasser betrachtet und sich darin verliebt. Zugleich entwickelt Visconti gerade aus dieser Szene ein weiteres Werkzitat aus Thomas Manns Zauberberg. Im Hintergrund des sich selbst betrachtenden Aschenbachs brennen die Desinfektionsfeuer der Stadt. Dadurch entsteht ein visueller Kontrast, der auch im Zauberberg vorkommt:

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