Schönheit wird nunmehr als
falsch und unmöglich deklariert. Falschheit- und Todesmotiv vereinigen sich
in dem Adagietto. Der Höhepunkt der Groteske ist auch ein Höhepunkt des
ersten Themas in Takt 30: Die Worte des Friseurs »Und nun dürfen Sie sich
verlieben. . . in wen Sie wollen, Signore!« sind geschäftstüchtig und ironisch
zugleich und liegen exakt auf dem Quartsextakkord in Takt 30, ähnlich wie das
Schiff, das Aschenbach in der ersten Sequenz nach Venedig bringt, das auf
diesem Akkord durch das Bild fährt. Die Antizipation, die die Musik in der
ersten Sequenz geleistet hat, wird nun an dieser Stelle eingelöst: der Begriff der
Schönheit wird umgekehrt ins Groteske und in vollkommene Absurdität. In den
darauffolgenden Einstellungen in den dunklen, schmutzigen Gassen Venedigs, durch die
Aschenbach Tadzio folgt, wird das Liebesmotiv neben dem Motiv von Tod
und Verfall dominant. Aschenbachs Liebe hat sich in einen Wahn gesteigert.
Bezeichnend ist hier die Rolle der Semantisierung in bezug auf Mahlers Person. Die
Semantisierung durch die Persönlichkeit Mahlers erreicht mit der Sequenz, in der
Aschenbach sein Meisterwerk schreibt, ihren Höhepunkt: Harmonie und Geist sind in
Aschenbach in absoluter Harmonie vereint, ähnlich wie in Mahlers Kompositionen.
Somit sind Exposition, Steigerung und Höhepunkt der Handlung durch die
zunehmende Semantisierung durch den Mahlerischen Kontext gekennzeichnet, die in
der Sequenz, in der Visconti Mahlers dritte Sinfonie zitiert, ihren Höhepunkt
erreicht.187
Mit dem Fall der Handlung jedoch die Semantisierung des Zitats durch den Film
dominant. Aschenbachs Jugend wird durch das Leitmotiv als falsch und dekadent
enttarnt, eine Folge der zunehmenden Semantisierung des Adagiettos mit den Motiven
von Tod, Verfall, Dekadenz und Falschheit. Die Funktion des Zitats ist daher in allen
folgenden Sequenzen nicht mehr ausschließlich durch seinen eigenen Kontext geprägt –
Mahlers Diskrepanz zwischen Leben und Tod klingt ja auch hier an – sondern bereits
durch die eigene Semantisierung des Films. Die Schönheit und Ruhe des Satzes wird
mit Dekadenz und Verfall, letztlich mit dem Tod verbunden, ein semantischer
Gehalt, der im originalen Kontext zwar durch die Person Mahlers anklingt
und Exposition, Steigerung und Höhepunkt der Dramaturgie semantisiert, sich
jedoch nicht mehr ausschließlich und explizit auf die Bedeutung des Satzes
bezieht.
In Takt 33 erfolgt der nächste Schnitt. Die Kamera erfaßt zunächst die Wasseroberfläche des schmutzigen Kanals, in der sich die polnische Familie in der Märchensilhouette Venedigs und schließlich Aschenbach selbst widerspiegeln. Das Spiegelbild deutet damit auf seine eigene Wahrnehmung. Die Nachzeichnung seiner psychogenetischen Spur wechselt im Film ständig zwischen klar gezeichneten Bildeinstellungen und mythologisierenden Bildkompositionen.188 Die vorliegende Einstellung ist ein markantes Beispiel für diese doppelte Optik, denn sie deutet – wie auch die vorherige Einstellung des Spiegelbildes von Aschenbach – unmißverständlich auf Narziß, welcher der Überlieferung zufolge sein eigenes Spiegelbild im Wasser betrachtet und sich darin verliebt. Zugleich entwickelt Visconti gerade aus dieser Szene ein weiteres Werkzitat aus Thomas Manns Zauberberg. Im Hintergrund des sich selbst betrachtenden Aschenbachs brennen die Desinfektionsfeuer der Stadt. Dadurch entsteht ein visueller Kontrast, der auch im Zauberberg vorkommt: |