- 286 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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zugunsten der Musik jedes Geräusch, Aschenbachs Seelenzustand wird wie in einem musikalischen Vakuum präsentiert.

In dem Moment, wo Aschenbach sich gegen seine Abreise entscheidet, wird das Adagietto wieder leise eingeblendet; die Semantisierung wird fortgesetzt mit seiner Aussicht, Tadzio wiederzusehen, was wiederum auf Mengelbergs Interpretation des Satzes deuten könnte. Im Gegensatz zu den ersten Einstellungen wird die Geräuschkulisse nicht ausgeblendet, sondern geht sogar mit dem Crescendo der Musik: Aschenbachs Hinwendung zum natürlich Abseitigen ist keine Illusion mehr, sondern wird zur Realität. Erst auf dem Höhepunkt des ersten Themas wird die Bahnhofsatmo heruntergefahren. Die dissonante verminderte None auf dem C7 -Akkord in Takt 32 hat bereits eine antizipierende Funktion, denn kurz vor der Dominante C-Dur folgt der Schnitt auf den Cholerakranken, der vor Aschenbachs Augen zusammenbricht. Eine Spannung entsteht sowohl in der Musik als auch in Aschenbachs Gesicht. Die Musik fließt weiter wie die Menschenmenge, die achtlos an dem Sterbenden vorbeigeht. Dennoch wird die Musik in den Einstellungen zehn bis zwölf von der paraphrasierenden Zuordnung zur visuellen Ebene in eine kontrapunktierend kommentierende gekehrt. Die durch die noch unaufgelöste Kadenz erzeugte Spannung charakterisiert den Bruch zwischen dem zarten Gestus der Musik und den Bildern des Sterbenden. Die Schönheit des ersten Themas wird mit dem Todesmotiv konfrontiert. Diese Diskrepanz wird sogleich in Takt 38 wieder aufgenommen, jedoch in umgekehrter Konstellation. Während Visconti einen Aschenbach präsentiert, der zufrieden im Boot zum Lido sitzt und sich an dem sonnigen Anblick der Stadt erfreut, setzt das zweite Thema das dramaturgische Todesmotiv nun musikalisch fort, denn es charakterisiert jenen Mahler-Weltschmerz, der die Diskrepanz zwischen Leben und Tod beschreibt. Die Kontrapunktierung wird hiermit fortgesetzt, denn den schönen Bildern der Stadt – Visconti setzt die Häuser hier bewußt ins Sonnenlicht – muß nicht nur dramaturgisch, sondern auch musikalisch der Tod entgegengesetzt werden. Zu alledem ist die Musik hier auch vorausdeutend, da das zweite Thema auf Aschenbachs Tod hindeutet, der durch die Seuche in der Stadt verursacht wird, die ihm jetzt noch so angenehm und untrügerisch erscheint. In Einstellung 14 erfaßt die Kamera Aschenbach nun in Aufsicht, um im Hintergrund die blaue Lagune zu zeigen. Wiederum wird das Adagietto mit dem Nirwana- und dem Todesmotiv konfrontiert. Die Kontrapunktierung setzt sich fort bis zum Takt 47. Die Melodie moduliert in einen ruhigeren Gestus nach Ges-Dur. Mit dem Beginn des dritten Themas öffnet Aschenbach das Fenster, auf die erste Steigerung, die auf dem h” verweilt, erfolgt ein Zoom auf Tadzio, der unten am Strand spazierengeht. Die kontinuierliche Steigerung des Themas illustriert Aschenbachs steigende Sehnsucht. Mit seiner zögerlich pathetischen Begrüßungsgeste erreicht das Thema in Takt 57 seinen Höhepunkt. Das Sehnsuchtsmotiv ist auch noch präsent, als Aschenbach an den Strand geht und sich einen Liegestuhl in der Nähe der polnischen Familie sucht. Indem er sich nun vom klassischen Ideal zur Natürlichkeit hinwendet, entfernt er sich gleichzeitig von Manns Protagonisten und nähert sich der Persönlichkeit Mahlers an, der in seinen Werken stets eine Harmonie zwischen diesen Positionen suchte, indem er die Inspiration durch seine Außenwelt in einem geistigen Akt stilisierte. Damit traten romantischer Hedonismus und Tradition in einer neuen Form in seinen Werken zusammen, welche die Grenzen der Tonalität


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