- 285 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Auch in dieser Situation wirkt der Einsatz von Musik im Verfahren von Schuß-Gegenschuß als Groß- bzw. Nahaufnahme wie ein Possessivpronomen. Die Musikeinblendung wird durch die Begegnung der beiden vorgezeichnet und kennzeichnet eine »unsichtbare Regie«, deren Aussage in der Bedeutung des Mahlerischen Adagiettos liegt. In diesen ersten drei Einstellungen des Blickkontaktes wird die Begegnung der beiden zum ersten Mal mit dem Adagietto unterlegt, was auf Mengelbergs Deutung des vierten Satzes »eine Liebe tritt in sein Leben« hinweist. Insofern wird die Musik hier schließlich auch mit dem dramaturgischen Liebesmotiv verklammert. Der Fremdton der Musik erweitert somit die Einstellung um die semantische Dimension. Das Eröffnungsmotiv I verweist zum anderen auf das Rückert-Lied. Der Vers »Ich leb’ allein in meinem Himmel, in meinem Lieben« findet unmittelbar Bestätigung in Aschenbachs Worten, die seine Resignation über die Unmöglichkeit, Natürlichkeit auszuleben, widerspiegeln. Somit ist die Zuordnung der auditiven zur visuellen Schicht rein paraphrasierender Natur. Das Schnittverfahren zwischen den drei Einstellungen entspricht Hickethiers Theorie des »unsichtbaren Schnitts«, der von der ersten zur zweiten und von der dritten zur vierten Einstellung stets verzögernd auf der jeweiligen Taktzahl liegt und damit den musikalisch geraden Takt in Vierteln übergeht. Dadurch wird der »Energiestrom« zwischen Aschenbach und Tadzio nicht unterbrochen. Die Erweiterung um die semantische Dimension bestätigt sich auch im Umgang mit den Geräuschen. Während das Stimmengemurmel und Geschirrgeräusche vor der Begegnung Aschenbachs mit Tadzio die normale Atmosphäre des Frühstücksraumes charakterisieren (Lissa), werden diese während der Begegnung zugunsten der Musik langsam ausgeblendet. Die Normalität der Situation wird ausgeschaltet, der Zuschauer betritt eine neuen semantischen Raum. In der vierten Einstellung wird sogleich Schneider bestätigt: die fehlende Geräuschkulisse, die in der Musik untergeht, kennzeichnet ebenso Aschenbachs Einsamkeit. Mit der Weiterspinnung des Eröffnungsmotives wird auch die Sequenz mit Einstellung fünf weitergeführt. Auffällig ist in dieser langen Einstellung die Kamera. Sie ist statisch und erfaßt dadurch die Bewegungen des Bootes, das Aschenbach durch die Häuserlandschaft Venedigs fährt. Motte-Habers musikalisches Tableau ist hier wiederum präsent. Aschenbachs Gesicht wird mitunter in einer Untersicht in Großaufnahme gezeigt, im Hintergrund die scheinbar sich bewegenden Häuser, eine verwirrende Kameraperspektive. Doch das musikalische Tableau formuliert Gefühlsappelle, die im Zuge der fiktiven Nähe zu Aschenbach mit ihm identifiziert werden. Der Kontext des Rückert-Liedes wird transparent: Aschenbach nimmt keinen Anteil an den vorbeifließenden Bildern der Stadt (»Es ist mir auch gar nichts daran gelegen, ob sie mich für gestorben hält.«) und zieht sich in seine Traurigkeit zurück. Das erste Thema fungiert wie auch in der ersten Sequenz als »musikalisches Bild«, das von harmonischer Strebsamkeit befreit ist und in sich kreist. Die vermeintliche Statik des musikalischen Tableaus wird durch die Kamera bestätigt. Auch hier erscheint das Thema wieder zusammen mit dem Nirwana-Motiv. Als wollte Visconti den Zuschauer entlarven, sich der ziellos kreisenden Melodie des Adagiettos ausgeliefert zu haben, setzt er in Takt 17 einen harten Schnitt auf der unaufgelösten Kadenz. Die laute Bahnhofsatmosphäre der nächsten Einstellung bringt ihn wieder in die Realität zurück. Im Vergleich dazu fehlte in der vorhergehenden Einstellung wieder

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