- 284 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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ist als »realistisch« zu bezeichnen, da Mahler Gegensätze in einer sinfonischen Einheit zusammenzwingt, die sich in der Realität, letztlich in der Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts, jeder Bestätigung entzieht. Mahler charakterisierte die Zersplitterung der Gesellschaft vornehmlich aus dem Blickwinkel seiner Kunst, was im Film sogleich seine Bestätigung findet, als Alfried Aschenbach am Flügel die Auflösung jeglicher Tonalität demonstriert: »Musik ist die Zweideutigkeit als System.« Manns Leverkühn spricht hier aus der Person Alfrieds, den Mann nach eigenen Worten an der Person Schönbergs orientiert hat. Mahler spricht wie Leverkühn von einem »Kunstleben«, das immer und überall das »verlogene, von Grund auf verpestete, unehrliche Gebaren« sei. Leverkühn charakterisiert die Situation der Musik um die Jahrhundertwende auf ähnliche Art und Weise: »Freund, es geht nicht mehr. [. . . ] Durch die unermüdliche Aussöhnung ihrer [der Musik] spezifischen Anliegen mit der Herrschaft der Konventionen hat sie an dem höheren Schwindel gleichwohl nach Kräften teilgenommen.«183
183 Mann 1995a, S. 324.
Mann legt seinem Protagonisten Leverkühn die Ansichten Schönbergs in den Mund. Schönberg wiederum hat sich hat sich an den ästhetischen Kompositionsprinzipien Mahlers orientiert, in der er die Auflösung jeglicher Tonalität bereits antizipiert hat. Mahlers Auffassung von der beschädigten musikalischen Welt ist für ihn ein Spiegel einer durch Modernisierung zersplitterten Gesellschaft. In seiner fünften Sinfonie vereinigt er tradiertes Material in einer trivialisierten Form, als solche ist sie »realistisch« und diesseitsbezogen. So schafft Visconti über den Umweg des Doktor Faustus einen Hinweis auf Mahler.

Den ersten eindeutigen Hinweis darauf, daß Luchino Visconti Manns Schriftsteller Aschenbach in einen Komponisten verwandelt, der ganz offensichtlich an Mahler angelehnt ist, gibt Alfried, als er den Anfang des vierten Satzes aus Mahlers Sinfonie Nr. 4 G-Dur zitiert: »Hörst du das? [. . . ] Das ist deine Musik!« Entgegen der Eindeutigkeit des Zitates macht Renner es sich bei der Identifikation dieses Ausschnittes nicht gerade leicht, wenn er schreibt: »Diese [Takte] erweisen sich als eine Es-Dur-Transposition aus Schuberts früher A-Dur-Sonate D 446, einer Liedsonate, die der Frühromantik angehört und eher noch zurück auf Mozart verweist.«184

184 Renner 1987, S. 156.
Das Zitat ist eindeutig Mahler zuzuschreiben. Doch verfälscht Visconti die historischen Fakten, wenn er Mahlers vierte Sinfonie als eine Musik darstellt, die in formvollendeter klassischer Tradition steht – ein ästhetisches Ideal, das Manns Aschenbach vertritt, denn Mahler suchte die sinfonische Einheit zwischen Tradition und Trivialität. Aus dieser dennoch eindeutigen Identitätszuweisung Aschenbach – Mahler ergibt sich eine weitere Parallele durch den Handlungsort. Das Haus, in dem Alfried und Aschenbach ihre Diskussion führen, liegt nach der Innenausstattung zu schließen ganz offensichtlich in der freien Natur Bayerns oder Österreichs, ein Hinweis auf Mahlers Komponierhäuschen in Maiernigg oder Steinbach am Attersee, in das er sich für seine Kompositionen zurückzog.

3. Sequenz: Aschenbach verläßt Venedig/Rückkehr

Der Einsatz von Mahlers Adagietto erfolgt als Fremdton unmittelbar mit dem direkten Blickkontakt Tadzios und Aschenbachs (vgl. Sequenzprotokoll Anhang B.2.3). Durch die Musik wird der »Energiestrom« zwischen beiden verstärkt (Schneider).


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