- 283 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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die Musik als Leitthema im Sinne Motte-Habers den weiteren Gang der Handlung, da das Motiv der entfliehenden Zeit charakteristisch ist für Aschenbachs Lebensauffassung: sein gesamtes Leben hat er seiner Doktrin gewidmet und darüber hinaus nicht bemerkt, wie das Leben an ihm vorüberzieht, was letztlich auch ausschlaggebend für das Sehnsuchtsmotiv ist, in dem er seine Jugend zurückholen möchte. So wird dem musikalischen Leitmotiv nicht nur durch die Dramaturgie des Films eine Bedeutung zugetragen, es semantisiert seinerseits die zweite Sequenz durch den Aspekt der Zeit. Als solches ist es zu sehr konkreter Aussage fähig. Nicht nur als Leitthema erhält die Musik hier eine syntaktische Funktion (Motte-Haber), sondern auch aus filmgliedernder Sicht. Sie charakterisiert die Aussage der Rückblende und signalisiert durch ihre abschließende Kadenz das Ende der Einstellung, die dann von der Gegenwart weitergeführt wird und der Rückblende damit die Realität entgegensetzt (nach Schneider ein Ortswechsel »von innen nach außen«). Darüber hinaus ist sie syntaktisch aus der Sicht der Gesamtmontage, da sie den vermeintlichen inhaltlichen Bruch zwischen Gegenwartshandlung und Rückblende durch ihren semantischen Gehalt entschärft. In dieser Funktion schafft sie auch eine Kontinuität und syntaktische Verbindung zwischen Gegenwart und Rückblende, da mit dem Schluß der Musik der Schnitt in die Gegenwart folgt.

Während des Diners führt Visconti Aschenbachs Konflikt zwischen Geist und Sinnlichkeit ein, der zunächst in Form einer rein akustischen Rückblende aus dem off stattfindet. Erst in der darauffolgenden Rückblende durch den Schnitt wird der Einfluß des Mahlerischen Kontext wieder sichtbar. Visconti vermischt hier die verschiedensten Quellen seiner Verfilmung zu einem dramaturgischen Verlauf.

»Das Leben des Künstlers in der Gesellschaft ist von Leid geprägt«, so äußert sich Gustav Mahler in einem Brief gegenüber Friedrich Löhr. Der Künstler ist auf sich allein gestellt und erschafft sich in seinen Kompositionen eine eigene Welt im Zuge seiner »kreativen Eingebung.« Der Hinweis auf Mahler ist eindeutig, wenn Visconti seinem Protagonisten die Worte in den Mund legt: »Die Realität macht uns klein und unfrei.« Sowohl Mahler als auch Viscontis Aschenbach definieren das Leben gemäß ihrer Kunstauffassung, was auf das künstlerische Autonomieprinzip im ausgehenden 19. Jahrhundert deutet. Doch mit Aschenbachs Worten »Die Schöpfung von Schönheit und Vollkommenheit ist ein geistiger Akt« spricht Manns Protagonist, der die Erlangung von Weisheit und Wahrheit nur in der Beherrschung der Sinne sieht. Die Semantisierung durch Mahler verlagert sich in diesem Augenblick auf Alfried: »Schönheit gehört ins Reich der Sinne. [. . . ] Genie ist von Gott verhängt. [. . . ] Das Böse ist eine Notwendigkeit. Es ist das Brot des Genies.« Auch in der nächsten Rückblende, in der Alfried die wunderbar krankhafte und verdorbene Haltung des Künstlers preist, spielt Visconti durch die Person Alfrieds auf den Genie-Kult des 19. Jahrhunderts an. Der Künstler vereinigt sich selbst und seine Kunst zu einer Art Kunstreligion. Das Genie ist die angeborene Gemütslage, durch welche die Natur (»das Böse« wie Alfried das natürlich Abseitige definiert) der Kunst die Regel gibt. Mahlers »Naturphilosophie der Kunst«, wie Danuser es nennt, spiegelt sich in Alfrieds Worten wider. Die Wahrheit, von der Manns Aschenbach spricht, steht hier in direktem Kontrast zu Mahlers Auffassung, die sich in den Worten Alfrieds wiederfindet. Die Wahrheit findet der Künstler nur, indem er die Trivialität des Alltagslebens und Tradition in seiner Kunst vereint. Die fünfte Sinfonie


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