- 281 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Hinweise auf den Komponisten streut Visconti zusammen mit seinem Bezug zu Manns Doktor Faustus ein: zum einen, indem die Kamera für einige Sekunden auf dem Namen des Schiffes »Esmeralda« verweilt, zum anderen durch das dämonische Motiv in Person des geschminkten Greises, mit dem das Motiv der Begegnung eingeführt wird. Beides Hinweise auf Manns Doktor Faustus, in dem der moderne Komponist Adrian Leverkühn der Protagonist ist. Die Andeutung in bezug auf den Komponisten Mahler ist insofern zu erklären, da Visconti die Dramaturgie des Filmes, der in erster Linie durch Manns Der Tod in Venedig inspiriert sein sollte, durch den Doktor Faustus erweitert hat, einen Roman über Musik. Wenn Visconti lediglich Manns Roman hätte verfilmen wollen, so hätte die gleichnamige Vorlage vollkommen ausgereicht. Die Tatsache, daß er sich jedoch auch anderer Quellen bedient, so insbesondere des Doktor Faustus, weist darauf hin, daß die Musik wie im Roman auch in seinem Film einen gewissen Stellenwert einnimmt. Das Zitat in der ersten Sequenz deutet somit bereits auf den Kontext »Mahler«, der auch in zeitlicher Hinsicht im Film deutlich wird.

Die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts als eine Welt der »modernen Heuchelei und Lügenhaftigkeit«, wie Mahler sie selbst nannte, charakterisiert Visconti bei der Ankunft Aschenbachs im Des Bains. Am deutlichsten tritt jene »moderne Heuchelei« in der Person des kratzfüßigen Hoteldirektors in jeder Sequenz zutage, der Aschenbach ganz offensichtlich zu aufdringlich ist. Vor eben diesem gesellschaftlichen Hintergrund flüchtet Mahler in die Rolle des »heroischen Künstlers«, der sich gegen die Gesellschaft abzuschotten versucht. Auch Aschenbach ist in dieser Gesellschaft isoliert. Zwar wird er vom Hotelpersonal mit größter Aufmerksamkeit empfangen, doch erscheint er auch in dieser Szene als ein Mann, der eine bewußte Distanz zu seiner Umwelt aufbaut.

Die darauffolgende Rückblende ist ebenso durch den Mahlerischen Kontext semantisiert, denn Aschenbachs Zusammenbruch als Folge von Arbeitsüberlastung und Herzschwäche deutet unmißverständlich auf den Komponisten, der sich kontinuierlich in Hyperaktivität hineinsteigerte und sich wie Thomas Mann selbst auch als Leistungsethiker betrachtete. Der Kontext ist auch daher so eindeutig, da Visconti sich hier deutlich von der literarischen Vorlage Manns entfernt. In der Novelle fährt Aschenbach nicht aus gesundheitlichen Gründen nach Venedig, sondern aus purer Reiselust.

2. Sequenz: Rückblende: Aschenbach und Alfried

Das Adagietto der Rückblende wird in einer Klavierfassung, in der Alfried am Flügel gezeigt wird, verkürzt präsentiert. Es setzt mit dem Schnitt als Bildton ein. Dadurch wird die Aufmerksamkeit des Zuschauers verstärkt angeregt (Motte-Haber). Alfried spielt das Adagietto so unaufdringlich, daß es nicht zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wird. Der unmittelbare Kameraschwenk auf Aschenbach weiß dies auch zu verhindern (vgl. Sequenzprotokoll Anhang B.2.2). Dieser paraphrasiert nun den Stundenglas-Dialog aus Manns Doktor Faustus, was wiederum auf den Komponisten Leverkühn deutet. Die Sequenz besteht aus einer einzigen Einstellung - im strengen Sinne wäre sie demnach nicht als Sequenz zu bezeichnen. Das Adagietto erscheint zum ersten Mal zusammen mit menschlicher Rede. Obwohl es dynamisch weitaus zurückhaltender ist als in der ersten Sequenz, ist es trotzdem kein bloßes


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