- 280 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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diesem Zusammenhang auch Schneiders Vorstellung von der Musik im off, denn das Adagietto verleiht der visuellen Ebene jene »psychischen Innenräume«, die der Zuschauer durch die fiktive Nähe der Kamera erschließen kann.

Die Tatsache, daß Mahlers Adagietto direkt mit dem Vorspann in das filmische Geschehen hineinreicht, gibt ihm eine zentrale Bedeutung vor allem in der Hinsicht, daß während dieser ersten Sequenz zwei wichtige Motive – das Todesmotiv und das Nirwana-Motiv – eingeführt werden. Die Musik endet mit dem Signal des Schiffes. Durch dieses wird die Intensität der Musik roh unterbrochen, so daß der Zuschauer eine Leere empfindet, die sich in eine Erwartungshaltung umwandelt. Eine gute Ausgangsbasis für Visconti, sofort im weiteren Verlauf das Kriegsmotiv und das dämonische Motiv zusammen mit demjenigen der Falschheit einzuführen.

Durch seine Position im Vorspann und in der ersten Sequenz des Filmes ist das Adagietto auch ein main-title, auch wenn dieser Begriff eher an die Filmtradition der dreißiger und vierziger Jahre erinnert. Es handelt sich um einen geschlossenen Satz, der in der ersten Sequenz zwar nicht bis zum Ende zitiert wird, jedoch als Teil einer Sinfonie als solcher zu erkennen ist. Ganz offensichtlich schafft Visconti bereits in der ersten Sequenz einen dramaturgischen Freiraum für die Musik – jegliche Dialoge, Geräusche oder Handlungen auf der visuellen Ebene werden aufgespart. Die Musik allein lebt mit dem Bild. Auffällig ist in diesem Zusammenhang das kurz darauffolgende Panorama auf den Dom Santa Maria della Salute, in der die Stille mehr störend als normal wirkt, besonders in der Hinsicht, daß die Lagunenstadt vorher ausschließlich mit der Musik gezeigt wurde. Der Zuschauer wird mit diesem dadurch schon fast bedrohlich wirkenden, taumelnden Bild allein gelassen. Gemäß Kinsky-Weinfurter ist die Stille an dieser Stelle ein selbständiger Inhaltsträger, denn sie deutet bereits auf die Seuche hin, die sich verbreitet und die Stadt auslöschen wird.

Eine weitere – jedoch mehr oberflächliche – Semantisierung liegt im Aussehen des Protagonisten, der Ähnlichkeiten mit der Person Mahlers aufweist. Natürlich mag man darüber streiten, ob diese Ähnlichkeiten mehr zufällig oder von Visconti beabsichtigt sind. Doch bedenkt man, daß sich bereits im dramaturgischen Umfeld Parallelen durch die Musik Mahlers ergeben haben, so erscheint die Ähnlichkeit Bogardes mit dem Komponisten doch kein Zufall zu sein. Bei der Frage nach dem Grund für Aschenbachs Weltschmerz endet jedoch zunächst die Semantisierung durch den Kontext. Aus der Dramaturgie des Films wurde ersichtlich, daß der Grund für seine Depression in der Diskrepanz zwischen Geist und Natur ist. In diesem Augenblick ist seine Persönlichkeit noch durch den Geist beherrscht, doch weiß er um die Verlogenheit seiner eigenen Doktrin, was an den späteren Rückblenden mit Alfried deutlich wird.

Mit der äußerlichen Imitation Mahlers durch Aschenbach tritt ein Aspekt der Semantisierung hinzu, der sich nicht nur auf das Adagietto der fünften Sinfonie bezieht, sondern auch jenen in der These erläuterten Kontext suggeriert, der letztlich auf die Persönlichkeit des Komponisten und seine Zeit hindeutet. Dieser ist nicht nur in den Szenen präsent, in denen Mahlers Musik unterlegt ist, sondern in der gesamten folgenden Dramaturgie des Films. So wird die funktionale Analyse von Mahlers Musik auch zu einer gesamtdramaturgischen Angelegenheit, für die sich Kloppenburg in Ablehnung einer zu einseitigen Sequenzanalyse ausspricht. Die ersten


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