- 279 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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nach Entgrenzung. Durch die Nähe des Zuschauers zu Aschenbach ist die Musik auch als psychologisch einzustufen. Die »Selbststeuerung« des Zuschauers, wie Motte-Haber es beschreibt, wird herabgesetzt, die Musik erfüllt dadurch auch jene affirmative Funktion. Auch Prendergasts Theorie des »psychological refinement« trifft hier zu, da die Musik die unausgesprochenen Gedanken Aschenbachs widerspiegelt, ohne daß der Zuschauer sie im Moment konkret deuten kann. Die achte Einstellung fällt genau mit dem Beginn des dritten Themas in Takt 50 zusammen. Doch die anschließende Steigerung kommt nicht mehr zum Zug, da die Melodie vor ihrer Auflösung in Takt 53 durch das laute Ankunftssignal unterbrochen wird.

In den ersten acht Einstellungen spielt die Musik also eine absolut dominante Rolle: zum einen harmonisiert sie mit dem Bild auf der rein musikalischen Ebene, zum anderen durch ihren Kontext, der hier besonders durch das Rückert-Lied geprägt ist. Menschliche Rede oder Geräusche werden gänzlich aufgespart. Vielmehr imitieren die Arpeggien der Harfe die vermeintlichen Wellenbewegungen. Diese Art der Einstellung widerspricht beispielsweise Lissas Auffassung, daß nur die Bewegung in der visuellen Ebene Geräusche rechtfertigt. Die Tatsache, daß mit den Bewegungen des Schiffes keinerlei Geräusche in dem Film montiert werden und schließlich ein reales Geräusch den Lauf der Musik brutal unterbricht, deutet darauf hin, daß Visconti in den ersten acht Einstellungen keine reale Atmosphäre schaffen will. In der Tat ertappt sich der Zuschauer dabei, daß er sich von der Musik wie in einer Art »weltverlorenem« Vakuum hat leiten lassen. Dieser Eindruck wird nicht nur durch die Musik in Verbindung mit der Kameraeinstellung hervorgerufen, sondern auch durch den Rhythmus zwischen Musik und Bildbewegung. Hier entsprechen besonders die Bewegungsrichtungen jener Harfenarpeggien den Bewegungen von Meer und Schiff in der visuellen Ebene. Durch die »krummen« Rhythmen der Musik, die frei in Tempo und Ausdruck, jedoch Teil einer langen Phrase des Adagiettos sind, entsteht für den Zuschauer jener Eindruck des »narkotischen Schwimmens in Musik«, um es mit Schneiders Ausdruck zu charakterisieren. Dieser wird zusätzlich durch Mahlers zweites Thema bestätigt, das um sich selbst zu kreisen scheint. Dabei werden die thematisch wichtigen Punkte des Adagiettos an Punkte der visuellen Ebene angelegt, die für die Dramaturgie aussagefähig sind, beispielsweise das zweite Thema auf der Nahaufnahme von Aschenbach und der Weite über den Sonnenaufgang. Der Effekt des Zusammenhalts »wie durch Schraubstöcke« wird hier ersichtlich und ergibt durch die Synchronität für den Zuschauer eine Erlebniseinheit, in der er die Zeit nicht verstreichen spürt und besonders durch die Funktion der Musik und der Kameraeinstellung eine erste Nähe zum Protagonisten aufbauen kann. Diese Erlebniseinheit wird durch jenes Ankunftssignal des Schiffes unterbrochen und in die Realität geführt. Visconti widerspricht hiermit auch völlig Schneiders Auffassung, denn die Musik erfüllt auch ohne unmerkliche Verschmelzung mit Geräuschen ihren funktionalen Zweck. Jegliche Realität in der Sequenz wird ebenso aufgespart durch den Fremdton, in dem die Musik eingespielt wird. Als solche vermittelt sie im dargestellten semantischen Zusammenhang zwischen dem Zuschauer und der visuellen Ebene. Im Gegensatz zu Gorbmans Auffassung wirkt auch die Musik in ihrer Funktion als kontrapunktischer Kommentar in den Einstellungen drei bis fünf nicht störend, sondern eher dramaturgisch vorausdeutend. Die Semantisierung durch das Zitat entspricht in


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