- 28 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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für eine Schilderung der auditiven und der visuellen Schicht im Film aufschlußreich, diese physiologisch zu erörtern.

Das Auge ist in unserer Videokultur (lat. »video« = ich sehe) ein überstrapaziertes und überschätztes Sinnesorgan, das in der Leistungsgesellschaft beherrschend wurde. Es ist ein durch seine Beweglichkeit gerichtetes, gezielt einsetzbares und verschließbares, aktives Sinnesorgan, das gestaltkräftige Informationen übermittelt. Das Ohr ist demgegenüber passiv, unbeweglich, kaum gerichtet und nicht verschließbar. Es vermittelt dem Gehirn (abgesehen vom Sonderfall beim Lesen begrifflicher Wortsprache) gestaltschwache Informationen – vorwiegend über die Ganzheit der Umgebung, auch über verborgene, nicht sichtbare Objekte – als diffuses, oft nicht weiter aufschlüsselbares Hörbild. Das Auge ist ein hochorganisiertes Organ, das dem Menschen gerade bei der Bewältigung differenzierter Leistungen hilfreich ist. Mit dem Großhirn ist es über Millionen von Neuronen verbunden. Es arbeitet in einem Frequenzbereich von etwa 6 Billionen Hertz. Das Ohr hingegen hat sich nach Adorno nicht der hochindustriellen Ordnung angepaßt, als solches ist es im Vergleich zum Auge »archaisch«. Das Ohr, dem Adorno damit etwas »Dösendes« zuspricht, besitzt eine geringere Übertragungskapazität von nur 16 bis 20 000 Hertz und ist weniger mit dem für intelligente Leistungen zuständigen Großhirn, sondern mit dem für das Emotionale und Affektive zuständige Stammhirn (z.B. Thalamus und limbischem System) verknüpft. Diese Teile sind entwicklungsgeschichtlich älter als das für das Sehen zuständigen Großhirn. Damit ist das Auge vorwiegend für das präzise Gestaltenerkennen, also für das Denken zuständig. Das Stammhirn, mit dem also auch Musik in hohem Maße verbunden ist, regelt im menschlichen Organismus die vegetativen Reaktionen. Musik geht daher »ins Blut« oder »unter die Haut«.2

2 N. J. Schneider 1993, S. 19–20.

Während Seh-Informationen sich also eher auf das Großhirn auswirken und meist nüchtern-sachlich verarbeitet werden, lösen Hörinformationen unmittelbar körperliche Reaktionen aus. Das Hören entspricht somit dem emotionalen Fühlen (als unbewußter Aneignung der Welt), während das Sehen dem Denken entspricht (als bewußter Aneignung der Welt). Das menschliche Denken vollzieht sich nach Art des Sehens. Die Ähnlichkeit zur filmischen Wahrnehmungs- und Darstellungsweise ist deutlich: auch hier reihen sich in Raum und Zeit diskontinuierliche Einstellungen, oft bloße Momentaufnahmen, zum Übergeordneten der Sequenz. Die Folge der Sequenzen muß dann wiederum durch Errechnung des Nicht-Gezeigten vom Bewußtsein zum Ganzen einer Szene ergänzt werden. Denken, auch das »filmische« Denken, kann nur informativ sein, d.h. ohne emotionale Einlösung des Ganzen.3

3 Schneider 1986, S. 65.
Das Sehen schafft Distanz und ist individuell gesteuert. Durch dieses Abtrennen des Gesehenen von der Ganzheit, durch das Isolieren des gesehenen Gegenstandes bekommt der Akt des Sehens immer etwas Urteilendes. Musik hingegen wirkt unbewußt und kann direkt mit den Emotionszentralen des Stammhirns unter Umgehung des bewußt denkenden Großhirns verschaltet werden. Sie eignet sich vorzüglich dazu, Stimmungen und Gefühle zu bewirken. Schneider spricht hier vom sogenannten »affektiven Gedächtnis«: Dinge werden im Großhirn besser erinnert (abgerufen), wenn sie mit einem Gefühlswert, mit einem Affekt gespeichert worden sind. Ein Mittel, um bestimmte vergangene Gefühle wieder hervorzurufen, ist die Musik. Emotionen als »affektives Gedächtnis« sind für Schneider ein wertvolles dramaturgisches Mittel im Film, denn seine Dramaturgie funktioniert in derselben Art und Weise: Eine wichtige Filmsituation oder eine Person wird mittels Musik

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