- 278 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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schiebt, entspricht dabei recht genau der geschriebenen Schilderung des Sonnenaufgangs, die der enthusiasmierte Aschenbach im vierten Kapitel in Manns Vorlage wahrnimmt, in dem der Erzähler in Anlehnung an Homer von der »rosenfingrigen Eos« spricht.182
182 Mann 1995b, S. 91–92; vgl. auch Renner, S. 145.
Damit fängt die Kamera eine Wahrnehmung auf, in welcher sich für den träumenden, der Welt entrückten Aschenbach die »zarten Farben« seines Traumes, seine geheimen Wünsche und ihre mythologische Konfigurationen ununterscheidbar miteinander verbinden. Filmbild und Musik zeichnen diese träumerische Entstellung des Wirklichen durch die Wahrnehmung Aschenbachs nach und weiten sie zugleich aus. Der musikalische Schwebezustand des Adagiettos inmitten des Satzgefüges der fünften Sinfonie erhält hier eine geradezu konkrete Verbildlichung. Gegenüber der literarischen Vorlage, die sich in der Beschreibung erschöpft, erhalten Bild und Musik an dieser Stelle eine antizipierende Funktion, denn sie zeigen bereits eine Entwirklichung, welche die Handlung noch enthüllen wird. Daß diese für Aschenbach tödlich endet, deutet ebenso die Schwermütigkeit des zweiten Themas an, das bereist auf den Titel des Films verweist. Auf diese Weise führt Visconti hier das Todesmotiv ein. Die Musik ist ebenso kommentierend im Sinne von Kracauers ästhetischen Funktionen, jedoch mit der Einschränkung, daß Musik hier kein bloßes »Hintergrundfüllsel«, sondern gegenüber der visuellen Ebene dominant ist. Diese Dominanz entsteht vor allem auch durch Aufsparung jeglicher menschlicher Rede oder von Geräuschen etwa des Schiffes.

Dieselbe Semantisierung ergibt sich auch in der folgenden fünften Einstellung, die exakt mit der Eins des Taktes 44 folgt: das Schiff steuert auf Venedig zu, die kontinuierliche Zurücknahme Mahlers von harmonischen Ruhepunkten in der Musik reflektiert vollkommene Rastlosigkeit, auch hervorgerufen durch Intervalle wie der verminderten Sext es”-g’ und der verminderten Oktav d”-es’ in Takt 44 sowie der verminderten Septime c’-b’ in Takt 45. Ein musikalisches Tableau mit Dissonanzen solcher Art zu gestalten, deutet wiederum auf Antizipation hin. Als solche erfüllt die Musik dieselbe Funktion wie in der vierten Einstellung. Während die Grenze zwischen Natur und Zivilisation bereits in den ersten Einstellungen zu schwinden begann, taucht nun die Silhouette von Venedig wie ein orientalisches Märchenbild aus der See auf. Zudem simuliert die Kameraführung, die den Blick Aschenbachs über das weiße Sonnensegel des Vorschiffes hinweg auf das Land nachstellt, die Vorstellung, als dringe ein weißes Fabelwesen, ein weißer Wal oder ein Eisberg in das Dunkel des Horizonts. Es scheint, als werde im Bild jener Satz aus der dritten Rückblende mit Alfried optisch umgesetzt, in der Aschenbach meint: »Künstler sind wie Jäger, die im Dunkeln etwas anvisieren.« Das auffallende Weiß des Sonnensegels steht hier wiederum für Aschenbachs zu diesem Zeitpunkt noch unbewußte Sehnsucht nach dem Abseitigen, was sogleich durch die Musik aufgegriffen wird, die sich hier zähflüssig durch mehrere Modulationen quält.

Die sechste Einstellung führt uns wieder in die Nähe Aschenbachs und läßt uns an seiner Psyche teilhaben. Die Nahaufnahme steht erneut in direktem Kontrast zur vorherigen Weite und betont sowohl die fiktive Nähe zu Aschenbach als auch dessen Verlorenheit inmitten dieses Meerpanoramas. Die emotionale Einfärbung des Bildes liegt hier ausschließlich im Kontext des Zitates, indem sie den depressiven Seelenzustand Aschenbachs reflektiert sowie seine – noch unbewußte – Sehnsucht


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