- 277 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (276)Nächste Seite (278) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Ich bin der Welt abhanden gekommen,
mit der ich sonst viele Zeit verdorben.
Sie hat so lange nichts von mir vernommen,
sie mag wohl glauben,
ich sei gestorben!

Es ist mir auch gar nichts daran gelegen,
ob sie mich für gestorben hält.
Ich kann auch gar nichts sagen dagegen,
denn wirklich bin ich gestorben der Welt.

Ich bin gestorben dem Weltgetümmel,
und ruh in einem stillen Gebiet.
Ich leb’ allein in meinem Himmel,
in meinem Lieben,
in meinem Lied.180

180 Mahler 1994, S. 8–13.

Die »Verlorenheit« des Komponisten in seiner Außenwelt, die im Lied anklingt, entspricht dem Bild Aschenbachs. Dieser Kontext wird sogleich im Film durch das zweite Thema bestätigt. Mahlers »Weltschmerz«, der die Zwiespältigkeit zwischen Leben und Tod bzw. Resignation charakterisiert, fällt exakt zusammen mit Aschenbachs Nahaufnahme, der im selben Moment resigniert seinen Kopf schüttelt, sich wieder von seinem Buch abwendet und nachdenklich auf das Meer blickt. Mit dem Schnitt (Einstellung 4) folgt eine Weitsicht auf das Meer und auf Fischer, die auf den Sandbänken ihre Netze auswerfen. Wiederum ist der Schnitt von der Nahaufnahme Aschenbachs in die Weite der Kamera auf Kontrast angelegt. Durch das zweite Moll-Thema, das während dieser Einstellungen durch mehrere Dissonantakkorde hindurch moduliert wird, entsteht eine weitere Semantisierung. Jenes labile schwermütige Stimmenkreisen ohne irgendein Ziel (Takt 41–46), das im Adagietto den Gegenpart zu dem zarten Dur-Thema bildet, erscheint hier als Kontrapunkt zum Bild. Die Schönheit des ersten Themas wird wie die Schönheit der Sonnenaufgangsbilder im Film durch das Moll-Thema getrübt. Damit führt die Musik an dieser Stelle bereits den ersten Hinweis Viscontis auf die Verbindung von Schönheit und Dekadenz ein. Wirkungsanalytisch und formal handelt es sich hier nach Pauli um eine Kontrapunktierung, da der Anblick des Meeres bei Sonnenaufgang alles andere als schwermütige Musik erwarten läßt, funktionsanalytisch handelt es sich jedoch um eine Paraphrasierung, da von jenem »tropischen Sumpfgebiet unter dickdunstigem Himmel, feucht, üppig und ungesund«181

181 Mann 1995b, S. 13–14.
die Cholera ausbrechen wird. Der im Lied angedeutete Gegensatz zwischen Weltgetümmel und Himmel erinnert ebenso deutlich an die für Mahler bezeichnenden Begriffe des »irdischen« und »himmlischen« Lebens wie er mit Viscontis Kameraeinstellung korrespondiert. Die oben angesprochene Desorientierung zwischen Himmel und Meer erhält nicht zuletzt durch die musikalische Variante eine antizipierende Dimension. Für den Zuschauer noch nicht unbedingt offensichtlich, entsprechen diese verschwimmenden Naturbilder neben der Verbindung von Schönheit und Dekadenz bereits der entgleitenden Grenze zwischen Natur und Zivilisation. Das Wolken- und Lichtspiel des rosagefärbten Himmels, das die Kameraeinstellung nun in den Vordergrund

Erste Seite (i) Vorherige Seite (276)Nächste Seite (278) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 277 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik