- 276 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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um mit dem Titel des Rückert-Liedes zu argumentieren. Insofern erfüllt die Musik gleich von Beginn an die affirmative Funktion der Bildeinstimmung.

Das Schiff wird sichtbar (Takt 27), mit der deutlichen Steigerung der Melodie in Dynamik und Ausdruck fährt es »in das Bild hinein«. Auf dem Quartsextakkord erscheint es in der Totalen in Übergröße. Durch die Untersicht wirkt die gewaltige schwarze Silhouette bedrohlich und unnatürlich. Es erinnert an einen überdimensionalen Sarg, letztlich ist es denn auch ein Totenschiff. Diesem Eindruck folgt die Musik durch die aufgesetzte None, die sofort den so triumphalen Ausdruck des reinen F-Dur wieder zurücknimmt in dem Moment, als das Schiff aus dem linken Bildrand wieder »herausfährt« und lediglich die Rauchfahne zurückbleibt. Die Zurückhaltung und Unbestimmtheit, die Mahler sogleich nach dem Höhepunkt walten läßt suggeriert dem Zuschauer, daß das Schiff nichts Gutes bedeutet. Zurück bleibt die Weitsicht der Kamera auf das offene Meer. Der Rauch des Schiffes verbindet sich ebenso ohne Grenzmarkierung mit den Umrissen des Landes und der Wolkenformation. Das Nirwana-Motiv wird durch die kontinuierlichen Achtelbewegungen der Harfe charakterisiert, welche die Wellenbewegungen nachahmt – als solche ist sie im Sinne Spottiswoodes imitatorisch und betonend. Die Panoramaeinstellung der Kamera suggeriert auch Motte-Habers Begriff vom musikalischen Tableau. Die Abwesenheit von Menschen oder menschlicher Handlung verlangt nach Musik. Die paraphrasierende Beziehung zwischen Bild und Musik widerlegt darüber hinaus Adornos Argument, die Musik könne in einem musikalischen Tableau zu überwertig oder auf »bloße Stimmungsmache« reduziert sein. Bezeichnenderweise scheint das Bild hier ganz offensichtlich dem Lauf der Musik zu folgen. Eine Autonomie der Musik, die nach Adornos Befürchtung keinen Bezug mehr zur Bildfolge hat, kann hier ausgeschlossen werden. Darüber hinaus entspricht dieses Tableau ganz der These Motte-Habers, denn es imitiert nicht nur die Bewegungen des Meeres, darüber hinaus formuliert es jene Gefühlsappelle der Ziellosigkeit, Verlorenheit in der Weite, aber auch Bedrohung. Insofern ist es mit Motte-Habers Metapher des »musikalischen Bildes«, das eine Klangfläche darstellt, die von harmonischer Strebsamkeit befreit ist, durchaus vergleichbar.

Bezeichnenderweise folgt nach diesem Tableau mit der Weiterspinnung der Melodie (Takt 33) der Schnitt. Die folgende Einstellung zeigt Aschenbach in einer Halbtotalen an Deck des Schiffes. Der Schnitt ist in Form der Kontrastmontage angelegt. Die durch die Tableaus hervorgerufenen Gefühlsappelle überträgt der Zuschauer nun unwillkürlich auf den im Bild gezeigten Aschenbach (Motte-Haber). Hierdurch erfolgt eine weitere Semantisierung durch die Musik, denn die Totale fängt einen Mann ein, der wie in einen Panzer eingepfercht an Deck des Schiffes sitzt und keinen Blick hat für das prächtige Meerespanorama. Er versucht sich vergeblich auf seine Lektüre zu konzentrieren. Der Zoom in die Nahaufnahme offenbart sein Gesicht, das sehr müde und abgespannt wirkt, doch weniger als Folge der Reise. Seine depressive Miene verrät vielmehr eine Müdigkeit des Lebens, deren Ziellosigkeit mit der Musik harmonisiert. Die Tatsache, daß das Adagietto in diesen Einstellungen präsent ist – Aschenbach isoliert auf dem dunklen Deck des Schiffes – suggeriert ebenso den ersten Vers des Rückert-Liedes, von dem Mahler sein Adagietto motivisch ableitet:


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