- 275 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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von McKay wird in diesen entgegengesetzten Rhythmen bereits die Bewegung des Meeres angedeutet, das in den folgenden Einstellungen sichtbar wird. Die Tatsache, daß der gesamte Film mit dem Zitat einsetzt, deutet auf eine erste Funktionen hin. Ganz offensichtlich schafft die zarte Melodik des Adagiettos von Beginn an eine verträumte und entrückte Grundstimmung, die ihm auch inmitten des gesamten Satzgefüges zu eigen ist. Schneider spricht in einem solchen Fall auch von »epischer Vorwegnahme« im Sinne einer romantischen Programmouvertüre. Visconti erzählt bereits mit dem ersten Thema des Adagiettos eine Geschichte, ohne daß der Zuschauer etwas Konkretes versteht, da ihm zu diesem Zeitpunkt noch die semantischen Zuordnungen des Themas zu den Bildern fehlen. Dennoch wird seine Assoziationsfähigkeit angeregt. Diese verstärkt sich, wenn er das Zitat erkennt – abgesehen davon wird es auch im Vorspann deutlich als solches ausgewiesen. Thiels Begriff der affirmativen Bildeinstimmung ist hier ebenso anwendbar, denn der Zuschauer wird mit dem zart melodischen Gestus des Adagiettos nach dem Prinzip der moodtechnqiue auf das weitere Geschehen eingestimmt. Der Vorspann erstreckt sich bis zum Takt 22.

Auf dem Motiv III des ersten Themas, das sich im folgenden Takt auf einer Kadenz in die Tonika auflöst, erhellt sich die Leinwand in einer langsamen Aufblende als Übergang zur Handlungsphase. Durch die Tiefe des Bildes, die Super Panavision bietet, konnte der Kameramann Pasquale De Santis die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf den Mittelpunkt des Bildes lenken, in dem genau auf der Eins des Taktes 23 eine dünne Rauchwolke sichtbar wird. Durch die noch unaufgelöste Kadenz auf der Halben entsteht mit der Aufblende eine Spannung, welche die Aufmerksamkeit des Zuschauers auch musikalisch auf die durch die langsame Aufhellung des Bildes sichtbare Rauchwolke lenkt. Mit der Auflösung der Kadenz – mit der Entspannung – erkennt der Zuschauer die Rauchwolke als solche, was an Eisensteins Vertikalmontage erinnert. Sowohl das Bild als auch Mahlers Melodie erheben sich aus einer Leere: die Melodie erhebt sich aus einer Pause heraus (Takt 22), die Rauchwolke aus der Dunkelheit, als solches eine absolut synchrone Zuordnung von Bild und Musik. Zudem handelt es sich um eine deutliche Paraphrasierung, denn Mahlers Spannung und Entspannung auf der Kadenz stimmt vollkommen mit der Wirkung des Bildes überein. Visconti führt mit dieser ersten Einstellung auf das Meer das Nirwana-Motiv ein. Die dunkelblaue Farbe des Horizontes und des Meeres ist dominant. Visconti nutzt die suggestive Kraft der Bilder, die der erzählenden Beschreibung Manns gegenüberstehen. Die Grenze zwischen Himmel und Meer scheint zu verschwimmen. Insofern erscheint Aschenbachs Fahrt nach Venedig bereits zu Beginn als eine Reise in eine Art »Zwischenbereich«179

179 Renner 1987, S. 145.
, in dem Desorientierung herrscht. Aschenbach selbst erlebt diese Konfusion, er erfährt sie zuweilen auch als Raumverlust. Auf diese Weise wird die Wirklichkeit gleich zu Beginn durch das träumerische Element entgrenzt. Musik und Kameraeinstellungen korrespondieren dabei miteinander, denn die Musik greift diese fehlende Orientierung der Perspektive auf: die ziellose Melodieführung Mahlers, die keine deutliche thematische Entwicklung aufweist, suggeriert dem Hörer eine richtungslose Weite umgeben von absoluter Ruhe, die »der Welt abhanden gekommen ist«,

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