- 274 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (273)Nächste Seite (275) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Interpretationen, die zudem nur Halbwahrheiten verkünden, steht Bruno Walters Monographie177
177 Bruno Walter: Gustav Mahler. Ein Porträt. Wilhelmshaven 1981, S. 91.
über Gustav Mahler gegenüber. Hier schildert er, daß ihm weder aus einem Gespräch noch aus einer einzigen Note der Sinfonie bekannt geworden wäre, daß außermusikalische Gedanken oder Gefühle Mahler bei der Komposition der Fünften beeinflußt hätten. Dies ist allerdings angesichts der absoluten Kontrastfülle an Stimmungen, welche von tragischem Weltschmerz über Sentimentalität bis hin zu übermäßig triumphaler Freude die gesamte Bandbreite menschlicher Empfindungen reflektiert, nur schwer vorstellbar, besonders angesichts der Tatsache, daß Mahler sich als Mensch vollkommen mit seiner Musik identifiziert hat. Zudem steht der Aussage Bruno Walters auch die Ansicht Willem Mengelbergs gegenüber, ebenfalls ein mit dem Komponisten eng verbundener Bewunderer, der seine eigenen Empfindungen mit Bezug auf die fünfte Sinfonie in folgende Worte kleidete: »1. Satz: Tiefster Schmerz – Leid – Wehmut – Trübsal, [. . . ] ein Gesicht vom vielen Weinen entstellt und abwechselnd mit heftigsten Eruptionen von Verzweiflung, Wut, Raserei bis zum Wahnsinn [. . . ]. 3. Satz: Forcierte Fröhlichkeit, will es vergessen, das Leid, kann es noch nicht [. . . ] – trüber Grundton, hier und dort sogar ein Totentanz. 4. Satz: Liebe. Eine Liebe kommt in sein Leben. 5. Satz: Rückkehr zur Natur - genesen, ausgelassene Fröhlichkeit. [. . . ] am Schluß wahnsinnig vor Freude [. . . ].«178
178 Willem Mengelberg, zit. n. Silbermann 1986, S. 272.
Den ersten Satz hat Mengelberg wahrscheinlich mit dem zweiten zusammengezogen. Silbermanns zufolge entsprechen diese Gefühle womöglich in großem Maße dem Wollen des Komponisten. Dennoch wird oft die Frage aufgeworfen, ob die in der Sinfonie angestimmten Gefühlslagen autobiographischer oder weltanschaulicher Natur sind. Wahrscheinlich bedingten sich beide gegenseitig. Die fließende Melodie des Adagiettos erscheint in letzter Instanz wie ein lyrisch verklärter Blick zurück in ein Jahrhundert der Romantik, die an der Schwelle zum 20. Jahrhundert endgültig vorbei zu sein scheint, denn die Gegenwart holt den Hörer schnell im nervös pulsierenden Finale ein. Insofern bezieht Mahler hier die ästhetische Position, Widersprüche auszuhalten, gerade darin die Chancen von freier individueller Entfaltung zu begreifen und die Einheit der Gesellschaft nur noch als eine bloß regulative Idee, faktisch nicht mehr lebbar, zu akzeptieren. Damit erfüllt er seine ihm eigene Forderung, trotz dieser Konflikte einen – sinfonischen – Raum bereitzustellen, um eine ästhetische Gegenerfahrung zu vollziehen. Als Beobachter musikalischer wie auch gesellschaftlicher Antinomien verwirklichte Mahler so den »Dreisprung« zwischen Bürgertum, Spätromantik und Moderne.
11.1.3.2 Die dramaturgische Umsetzung

Im folgenden werden alle Sequenzen auf die vorangestellte These der semantischen Beschriftung untersucht, in denen Mahlers Adagietto präsentiert wird. Insgesamt fünfmal erscheint der Satz in der filmischen Dramaturgie.

1. Sequenz: Aschenbachs Überfahrt nach Venedig

Die erste Sequenz besteht aus den ersten acht Einstellungen des Films (vgl. Sequenzprotokoll Anhang B.2.1). Auf schwarzem Hintergrund erscheint zunächst ein Vorspann, welcher der langsamen Rhythmik der Musik entgegenläuft. Nach Ansicht


Erste Seite (i) Vorherige Seite (273)Nächste Seite (275) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 274 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik