Interpretationen,
die zudem nur Halbwahrheiten verkünden, steht Bruno Walters
Monographie177
über Gustav Mahler gegenüber. Hier schildert er, daß ihm weder aus einem Gespräch
noch aus einer einzigen Note der Sinfonie bekannt geworden wäre, daß außermusikalische
Gedanken oder Gefühle Mahler bei der Komposition der Fünften beeinflußt hätten. Dies
ist allerdings angesichts der absoluten Kontrastfülle an Stimmungen, welche von
tragischem Weltschmerz über Sentimentalität bis hin zu übermäßig triumphaler Freude
die gesamte Bandbreite menschlicher Empfindungen reflektiert, nur schwer vorstellbar,
besonders angesichts der Tatsache, daß Mahler sich als Mensch vollkommen mit
seiner Musik identifiziert hat. Zudem steht der Aussage Bruno Walters auch die
Ansicht Willem Mengelbergs gegenüber, ebenfalls ein mit dem Komponisten
eng verbundener Bewunderer, der seine eigenen Empfindungen mit Bezug auf
die fünfte Sinfonie in folgende Worte kleidete: »1. Satz: Tiefster Schmerz –
Leid – Wehmut – Trübsal, [. . . ] ein Gesicht vom vielen Weinen entstellt und
abwechselnd mit heftigsten Eruptionen von Verzweiflung, Wut, Raserei bis zum
Wahnsinn [. . . ]. 3. Satz: Forcierte Fröhlichkeit, will es vergessen, das Leid, kann
es noch nicht [. . . ] – trüber Grundton, hier und dort sogar ein Totentanz. 4.
Satz: Liebe. Eine Liebe kommt in sein Leben. 5. Satz: Rückkehr zur Natur
- genesen, ausgelassene Fröhlichkeit. [. . . ] am Schluß wahnsinnig vor Freude
[. . . ].«178
Den ersten Satz hat Mengelberg wahrscheinlich mit dem zweiten zusammengezogen.
Silbermanns zufolge entsprechen diese Gefühle womöglich in großem Maße dem Wollen
des Komponisten. Dennoch wird oft die Frage aufgeworfen, ob die in der Sinfonie
angestimmten Gefühlslagen autobiographischer oder weltanschaulicher Natur sind.
Wahrscheinlich bedingten sich beide gegenseitig. Die fließende Melodie des Adagiettos
erscheint in letzter Instanz wie ein lyrisch verklärter Blick zurück in ein Jahrhundert der
Romantik, die an der Schwelle zum 20. Jahrhundert endgültig vorbei zu sein scheint,
denn die Gegenwart holt den Hörer schnell im nervös pulsierenden Finale ein. Insofern
bezieht Mahler hier die ästhetische Position, Widersprüche auszuhalten, gerade darin die
Chancen von freier individueller Entfaltung zu begreifen und die Einheit der Gesellschaft
nur noch als eine bloß regulative Idee, faktisch nicht mehr lebbar, zu akzeptieren.
Damit erfüllt er seine ihm eigene Forderung, trotz dieser Konflikte einen –
sinfonischen – Raum bereitzustellen, um eine ästhetische Gegenerfahrung zu
vollziehen. Als Beobachter musikalischer wie auch gesellschaftlicher Antinomien
verwirklichte Mahler so den »Dreisprung« zwischen Bürgertum, Spätromantik und
Moderne.
11.1.3.2 Die dramaturgische UmsetzungIm folgenden werden alle Sequenzen auf die vorangestellte These der semantischen Beschriftung untersucht, in denen Mahlers Adagietto präsentiert wird. Insgesamt fünfmal erscheint der Satz in der filmischen Dramaturgie. 1. Sequenz: Aschenbachs Überfahrt nach Venedig Die erste Sequenz besteht aus den ersten acht Einstellungen des Films (vgl. Sequenzprotokoll Anhang B.2.1). Auf schwarzem Hintergrund erscheint zunächst ein Vorspann, welcher der langsamen Rhythmik der Musik entgegenläuft. Nach Ansicht |