- 264 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Sinnhaftigkeit des ersten Satzes fragt, der letztendlich nicht der Hauptsatz ist: er dient der Rechtfertigung des Komponisten, des Komponierens um 1900. Fomen wie der Trauermarsch im ersten oder der Ländler im dritten Satz deuten auf die musikalische Tradition um 1900 hin. Wenn Mahler in seinen Werken kreuz und quer auf ganz unterschiedliche musikalische Formen zurückgreift, so ist darin eine Art Rechtfertigung zu sehen. Um die Jahrhundertwende gibt es im Gegensatz zur klassischen Epoche kein verbindliches musikalisches Vokabular mehr. Das Arsenal an Floskeln und Formen, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts jedem Komponisten wie ein Grundvokabular oder Ausgangsmaterial zur Verfügung stand, hatte infolge des romantischen Traditionsverlustes und der Literarisierung der Musik seine sinn- und einheitsstiftende Kraft im musikalischen Werk verloren. Der musikalische Einfall brachte dem selbständigen Komponisten des 19. Jahrhunderts die Gunst des Verlegers ein – komponiert wurde, was Geld brachte. Die Folge: die Melodie überwucherte und verdrängte letztlich tradierte und allgemein anerkannte Kompositionsnormen. Um sein Werk vor der Welt und vor sich selbst rechtfertigen zu können und die Situation der Musik der Jahrhundertwende zu reflektieren, greift Mahler auf die Gebrauchsmusik seiner Zeit zurück, die inzwischen in die Niederungen des Vulgären hinabgesunken war. Damit sicherte er sich die Objektivität seines Ausgangsmaterials. Insofern bediente er sich mit Vorliebe musikalischer Formen seiner unmittelbaren Umgebung wie beispielsweise Märsche, Ländler, Walzer, Volkslieder, Zigeunermusik, aber auch Umweltgeräuschen – alles Signale einer weitgehend beschädigten musikalischen Welt. Doch bleibt Mahler in seinen Werken nicht nur beim Zitat. Dies zeigt sich in der Tatsache, daß er nicht den ersten Satz – den zitierten Trauermarsch – zum Hauptsatz des Werkes ernannt hat, sondern den zweiten Satz, in dem er den Trauermarsch zu einer neuen Komposition verarbeitet: dem Zitat folgt seine Verarbeitung, »Weltlauf und Durchbruch« (Adorno)139
139 Theodor W. Adorno: »Wiener Rede.« In: Rainer Wunderlich (Hrsg.): Über Gustav Mahler. Tübingen 1966, S. 195–198.
. Der dritte Satz, das Scherzo, ist ein Abkömmling des Haydnschen Menuetts, zugleich spätes Überbleibsel der barocken Suite. Mehr als hundert Jahre später gerät es bei Mahler zur Hauptsache der gesamten Sinfonie. Mahler erreicht hier in achthundert (!) Takten eine weitere Steigerung der Komplexität der musikalischen Struktur. Die Schizophrenie der ersten beiden Sätze wird hier gewaltsam zu einer symphonischen Identität gezwungen. Dies ist möglich, weil beide Themen – das Scherzo und der Walzer – von vornherein Zitat- sprich Weltcharakter haben.140
140 Csampai 1987, S. 632.
Durch diese Collagentechnik ergibt sich neben dem musikhistorischen auch ein gesellschaftlicher Bezug in Mahlers Musik. Indem er viele verschiedene Formen zusammenzwingt, zielt er einerseits auf die Re-zeptionsfähigkeit eines musikalisch gebildeten Bürgertums, andererseits stellt sie jedoch nur vordergründig Anschlüsse an eine Tradition her, die er in seiner eigenen Musik parodiert, letztlich eine groteske Perspektive offenbart. Immer wieder baut er in seiner Musik spannungsreiche Erwartungen auf, die dann systematisch enttäuscht werden. Traditionelle Formen werden durch immer neue Variationen aufgebrochen, die keine erhoffte Entspannung bringen.

Die musikalische Gebrochenheit ist ein Pendant zur Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft dieser Zeit. Man stand vor der Frage, wie eine Gesellschaft angesichts


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