Sinnhaftigkeit des ersten Satzes
fragt, der letztendlich nicht der Hauptsatz ist: er dient der Rechtfertigung des
Komponisten, des Komponierens um 1900. Fomen wie der Trauermarsch im ersten oder
der Ländler im dritten Satz deuten auf die musikalische Tradition um 1900
hin. Wenn Mahler in seinen Werken kreuz und quer auf ganz unterschiedliche
musikalische Formen zurückgreift, so ist darin eine Art Rechtfertigung zu sehen.
Um die Jahrhundertwende gibt es im Gegensatz zur klassischen Epoche kein
verbindliches musikalisches Vokabular mehr. Das Arsenal an Floskeln und Formen, das
zu Beginn des 19. Jahrhunderts jedem Komponisten wie ein Grundvokabular
oder Ausgangsmaterial zur Verfügung stand, hatte infolge des romantischen
Traditionsverlustes und der Literarisierung der Musik seine sinn- und einheitsstiftende
Kraft im musikalischen Werk verloren. Der musikalische Einfall brachte dem
selbständigen Komponisten des 19. Jahrhunderts die Gunst des Verlegers ein –
komponiert wurde, was Geld brachte. Die Folge: die Melodie überwucherte und
verdrängte letztlich tradierte und allgemein anerkannte Kompositionsnormen. Um
sein Werk vor der Welt und vor sich selbst rechtfertigen zu können und die
Situation der Musik der Jahrhundertwende zu reflektieren, greift Mahler auf
die Gebrauchsmusik seiner Zeit zurück, die inzwischen in die Niederungen des
Vulgären hinabgesunken war. Damit sicherte er sich die Objektivität seines
Ausgangsmaterials. Insofern bediente er sich mit Vorliebe musikalischer Formen seiner
unmittelbaren Umgebung wie beispielsweise Märsche, Ländler, Walzer, Volkslieder,
Zigeunermusik, aber auch Umweltgeräuschen – alles Signale einer weitgehend
beschädigten musikalischen Welt. Doch bleibt Mahler in seinen Werken nicht
nur beim Zitat. Dies zeigt sich in der Tatsache, daß er nicht den ersten Satz –
den zitierten Trauermarsch – zum Hauptsatz des Werkes ernannt hat, sondern
den zweiten Satz, in dem er den Trauermarsch zu einer neuen Komposition
verarbeitet: dem Zitat folgt seine Verarbeitung, »Weltlauf und Durchbruch«
(Adorno)139
139 Theodor W. Adorno: »Wiener Rede.« In: Rainer Wunderlich (Hrsg.): Über Gustav
Mahler. Tübingen 1966, S. 195–198.
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Der dritte Satz, das Scherzo, ist ein Abkömmling des Haydnschen Menuetts, zugleich
spätes Überbleibsel der barocken Suite. Mehr als hundert Jahre später gerät
es bei Mahler zur Hauptsache der gesamten Sinfonie. Mahler erreicht hier in
achthundert (!) Takten eine weitere Steigerung der Komplexität der musikalischen
Struktur. Die Schizophrenie der ersten beiden Sätze wird hier gewaltsam zu
einer symphonischen Identität gezwungen. Dies ist möglich, weil beide Themen
– das Scherzo und der Walzer – von vornherein Zitat- sprich Weltcharakter
haben.140
140 Csampai 1987, S. 632.
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Durch diese Collagentechnik ergibt sich neben dem musikhistorischen auch ein
gesellschaftlicher Bezug in Mahlers Musik. Indem er viele verschiedene Formen
zusammenzwingt, zielt er einerseits auf die Re-zeptionsfähigkeit eines musikalisch
gebildeten Bürgertums, andererseits stellt sie jedoch nur vordergründig Anschlüsse an
eine Tradition her, die er in seiner eigenen Musik parodiert, letztlich eine groteske
Perspektive offenbart. Immer wieder baut er in seiner Musik spannungsreiche
Erwartungen auf, die dann systematisch enttäuscht werden. Traditionelle Formen werden
durch immer neue Variationen aufgebrochen, die keine erhoffte Entspannung
bringen.
Die musikalische Gebrochenheit ist ein Pendant zur Entwicklung der bürgerlichen
Gesellschaft dieser Zeit. Man stand vor der Frage, wie eine Gesellschaft angesichts
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