- 263 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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linden Duft«, »Ich bin der Welt abhanden gekommen«, und »Um Mitternacht«). Während Mahler an der fünften Sinfonie arbeitet, lernt er Alma Schindler kennen, die er im März 1902 heiratet. In der Tatsache, daß Mahler in Gegenwart des »geliebten Almscherl« im Sommer 1902 in Maiernigg weiter an der fünften Sinfonie arbeitete135
135 Vgl. auch Alma Mahler-Werfel: Mein Leben. Frankfurt am Main 1999, S. 32–33.
, wollen viele Kommentatoren in der Sinfonie einen Ausdruck seiner Liebesgefühle für seine Frau sehen. Silbermann hält diese Interpretation für völlig abwegig. Wahrscheinlicher wäre diese Interpretation zudem bei der achten Sinfonie. Zwar legte Mahler stets »seine ganze Seele« in die Musik, doch sind seine Gefühle und Sehnsüchte stets in jenem übergeordneten musikhistorisch und gesellschaftlich bedingten Rahmen angelegt. Zwar vertonte Mahler so manches Liebesgedicht, doch entstanden nie Liebeslieder beispielsweise im Schubertschen Sinne. Nicht einmal, so Silbermann, die »weittragenden aktuellen Ereignisse um die Jahrhundertwende, die den keineswegs weltfremden Mahler ebenso berühren mußten wie jeden anderen Künstler, finden irgendwo Niederschlag in seinen zu dieser Zeit geschaffenen Werken.«136
136 Silbermann 1986, S. 267.
Es ist erstaunlich, daß nichts von alledem nicht einmal in seinen Briefen zu finden ist. Zwar war er der »Welt nicht abhanden gekommen«, doch blieb er, wenn er komponierte, in seiner von ihm erschaffenen Welt. Zwar sind jene sinfonischen »Motive« wie Tod und Leben auch das Ergebnis einer Reflexion der Außenwelt, doch sind sie weniger eine Folge aktueller politischer Ereignisse als vielmehr ein künstlerisches Selbstverständnis im Sinne eines romantischen Autonomieverständnisses, das sich aus der Geschichte gesellschaftlicher und politischer Umwälzungen entwickelt. Aktuelle Veränderungen schienen Mahler nicht im geringsten zu tangieren. Allmorgendlich zog er sich in sein abseits von Maiernigg gelegenes Komponierhäuschen zurück, um anhand seiner Skizzen die noch fehlenden Sätze seiner fünften Sinfonie zu komponieren.

Die subtile Programmatik in Gestalt der kontrastierenden Stimmungen der Sinfonie zeigt im Gegensatz zu Mahlers ersten vier Sinfonien den Diesseitsbezug des Komponisten. Während Mahler in seinen ersten Sinfonien noch als »verzückter Visionär« erscheint, setzt er sich in diesem Werk engagiert mit dem Thema von Tod und Vernichtung auseinander, um über beide im Finale zu triumphieren und ins Leben zu kehren.137

137 Edgar Istel/Ludwig Schiedermeir u.a.: Mahlers Symphonien. Berlin o.J., S. 96.
Zweifelsohne haben die Stimmungen der fünften Sinfonie – Tod, Leben und der romantisch angehauchte Rückzug ins eigene Ich im Adagietto – ihren Ursprung in Mahlers Ideologie, die seiner Zeit entspricht.

Dennoch stellt sich die Frage, warum Mahler just an der Schwelle zum lauten und nervösen 20. Jahrhundert wieder eine scheinbar »normale« Sinfonie komponierte, wo der klassische Formentypus mit Liszt und Wagner bereits seine erfolgreiche Liquidation erfahren hatte. Zwar leugnet die Sinfonie die klassische Viersätzigkeit, doch präsentiert sie sich durch ihre antinomen Stimmungen als ein schizophrenes Werk, das zwischen Formenkonsequenz und Neuorientierung steht. Die vermeintliche Haupttonart cis-Moll gilt lediglich für den ersten Satz, dieser ist Teil des zweiten Satzes. Csampai138

138 Attila Csampai: »Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 5 (1901–1903).« In: Attila Csampai/Dietmar Holland (Hrsg.): Der Konzertführer. Orchestermusik von 1700 bis zur Gegenwart. Reinbek 1987, S. 631.
beantwortet die obengestellte Frage, indem er nach der

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