- 261 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Schreiber beschreibt dieses Phänomen anhand der beiden Kunstformen, die Mahler bevorzugte: das Lied und die Sinfonie. Trotz ihres »Widerspruches« wuchsen sie aus dem einen Kern seiner »seelischen Veranlagung«, verhielten sich wie Vorder- und Rückseite zueinander: »Einerseits war er der naive, gläubige, der Natur zutiefst verbundene Mensch, der sich allem Ursprünglichen aufschloß; andererseits aber trug er, der mit kritischem Intellekt Begabte, die Kräfte seiner Zeit in sich, spürte ihre zerstörerischen Antinomien und litt unter dem die reine Natur entstellenden bürgerlichen Bildungsleben. So wurde Sehnsucht [...] zum schöpferischen Impuls. Das Lied war für Mahler Träger des innersten Gefühls, Ruhepunkt und seelischer Quell. Der symphonische Stil aber verschaffte ihm die ins Allgemeinbewußtsein greifenden Mittel der Auseinandersetzung mit Welt und Gesetz und Geschehen. Es war geradezu von Notwendigkeit, daß Lied und Symphonie sich gegenseitig bedingten.«127

127 Schreiber 1997, S. 135.

Die Sehnsucht als schöpferischer Impuls zeichnet Mahler als ein Erbe jenes frühromantischen »Weltschmerzes«: für ihn muß die Musik »immer ein Sehnen enthalten, ein Sehnen über die Dinge dieser Welt hinaus«128

128 G. Mahler zu Bauer-Lechner am 22. Juli 1899, zit. n. Constantin Floros: Gustav Mahler I. Die geistige Welt Gustav Mahlers in systematischer Darstellung. Wiesbaden 1977, S. 151.
, »wie aus einer anderen Welt herüber.« Musik wird so zum Gegenentwurf zur realen Welt, die von ihm wesentlich als Verlust erfahren wird. Verlust der Einheit von Natur und Mensch, und Verlust von sinnorientierenden Werten in Folge der Modernisierung. Die Musik setzt sich darüber hinweg und schafft eine Einheit, die durch die Gegenwart nicht mehr ausgewiesen wird. So meinte Mahler nach einer Aufführung seiner ersten Sinfonie: »Sonderbar geht es mir mit allen diesen Werken, wenn ich sie dirigiere. Es kristallisiert sich eine brennend schmerzliche Empfindung: Was ist das für eine Welt, welche solche Klänge und Gestalten als Widerbild auswirft! So was wie der Trauermarsch und der darauf ausbrechende Sturm scheint mir wie eine brennende Anklage an den Schöpfer. Und in jedem neuen Werk von mir [...] erhebt sich dieser Ruf von neuem: »Daß du ihr Vater nicht, daß du ihr Zar!« – d.h. nur während des Dirigierens!? Nachher ist alles gleich ausgewischt. (Sonst könnte man gar nicht weiterleben.) Diese merkwürdige Realität der Gesichte, die sofort zu einem Schemen auseinanderfließt, wie die Erlebnisse eines Traumes, ist die tiefste Ursache zu dem Konfliktleben eines Künstlers [...] und wehe, wenn ihm Leben und Träumen einmal zusammenfließt – so daß er die Gesetze der einen Welt in der anderen schauerlich büßen muß.«129
129 G. Mahler, Brief an Bruno Walter, (vermutl.) Dezember 1909, zit. n. A. Mahler 1924, S. 419.

Die Gesamtformen von Mahlers Sinfonien lassen sich nicht leicht zusammenfassen. Die Formen der einzelnen Sätze leiten sich aus der Tradition ab: Sonatenhauptsatzform, Scherzo, Trios, Trauermarsch, Variationen und Rondo. Die langsamen Sätze Mahlers sind normalerweise an dem Adagio aus Beethovens Neunter orientiert: Abwechslung zweier Themen, wobei Höhepunkt und Ende des Satzes meist auf dem ersten Thema basieren. Mahlers sinfonische Formen werden in der Literatur meist als sein Schwachpunkt kritisiert, da er auf revolutionäre Art und Weise in enormen Komplexen stets völlig kontrastierende Stimmungen aufeinanderprallen läßt. Cooke warnt hier vor einer allzu schnellen Verurteilung Mahlers und verweist auf Schönbergs Stil und Gedanke (1950). Die Zusammenfassung


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