Schreiber beschreibt dieses Phänomen anhand der beiden Kunstformen, die Mahler
bevorzugte: das Lied und die Sinfonie. Trotz ihres »Widerspruches« wuchsen sie aus dem
einen Kern seiner »seelischen Veranlagung«, verhielten sich wie Vorder- und Rückseite
zueinander:
»Einerseits war er der naive, gläubige, der Natur zutiefst verbundene Mensch,
der sich allem Ursprünglichen aufschloß; andererseits aber trug er, der mit
kritischem Intellekt Begabte, die Kräfte seiner Zeit in sich, spürte ihre zerstörerischen
Antinomien und litt unter dem die reine Natur entstellenden bürgerlichen
Bildungsleben. So wurde Sehnsucht [...] zum schöpferischen Impuls. Das
Lied war für Mahler Träger des innersten Gefühls, Ruhepunkt und seelischer
Quell. Der symphonische Stil aber verschaffte ihm die ins Allgemeinbewußtsein
greifenden Mittel der Auseinandersetzung mit Welt und Gesetz und Geschehen.
Es war geradezu von Notwendigkeit, daß Lied und Symphonie sich gegenseitig
bedingten.«127
127 Schreiber 1997, S. 135.
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Die Sehnsucht als schöpferischer Impuls zeichnet Mahler als ein
Erbe jenes frühromantischen »Weltschmerzes«: für ihn muß die Musik
»immer ein Sehnen enthalten, ein Sehnen über die Dinge dieser Welt
hinaus«128
128 G. Mahler zu Bauer-Lechner am 22. Juli 1899, zit. n. Constantin Floros: Gustav Mahler
I. Die geistige Welt Gustav Mahlers in systematischer Darstellung. Wiesbaden 1977,
S. 151.
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»wie aus einer anderen Welt herüber.« Musik wird so zum Gegenentwurf zur realen
Welt, die von ihm wesentlich als Verlust erfahren wird. Verlust der Einheit von Natur
und Mensch, und Verlust von sinnorientierenden Werten in Folge der Modernisierung.
Die Musik setzt sich darüber hinweg und schafft eine Einheit, die durch die Gegenwart
nicht mehr ausgewiesen wird. So meinte Mahler nach einer Aufführung seiner ersten
Sinfonie:
»Sonderbar geht es mir mit allen diesen Werken, wenn ich sie dirigiere. Es
kristallisiert sich eine brennend schmerzliche Empfindung: Was ist das für
eine Welt, welche solche Klänge und Gestalten als Widerbild auswirft! So
was wie der Trauermarsch und der darauf ausbrechende Sturm scheint mir
wie eine brennende Anklage an den Schöpfer. Und in jedem neuen Werk von
mir [...] erhebt sich dieser Ruf von neuem: »Daß du ihr Vater nicht, daß
du ihr Zar!« – d.h. nur während des Dirigierens!? Nachher ist alles gleich
ausgewischt. (Sonst könnte man gar nicht weiterleben.) Diese merkwürdige
Realität der Gesichte, die sofort zu einem Schemen auseinanderfließt, wie die
Erlebnisse eines Traumes, ist die tiefste Ursache zu dem Konfliktleben eines
Künstlers [...] und wehe, wenn ihm Leben und Träumen einmal zusammenfließt
– so daß er die Gesetze der einen Welt in der anderen schauerlich büßen
muß.«129
129 G. Mahler, Brief an Bruno Walter, (vermutl.) Dezember 1909, zit. n. A. Mahler 1924,
S. 419.
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Die Gesamtformen von Mahlers Sinfonien lassen sich nicht leicht zusammenfassen. Die
Formen der einzelnen Sätze leiten sich aus der Tradition ab: Sonatenhauptsatzform, Scherzo,
Trios, Trauermarsch, Variationen und Rondo. Die langsamen Sätze Mahlers sind
normalerweise an dem Adagio aus Beethovens Neunter orientiert: Abwechslung zweier
Themen, wobei Höhepunkt und Ende des Satzes meist auf dem ersten Thema basieren.
Mahlers sinfonische Formen werden in der Literatur meist als sein Schwachpunkt
kritisiert, da er auf revolutionäre Art und Weise in enormen Komplexen stets völlig
kontrastierende Stimmungen aufeinanderprallen läßt. Cooke warnt hier vor einer allzu
schnellen Verurteilung Mahlers und verweist auf Schönbergs Stil und Gedanke (1950). Die
Zusammenfassung
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