- 260 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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in der Überzeugung, daß es »von Beethoven angefangen keine moderne Musik« gibt, »die nicht ihr inneres Programm hat. – Aber keine Musik ist etwas wert, von der man dem Hörer zuerst berichten muß, was darin erlebt ist – respektive was er zu erleben hat.«121
121 G. Mahler, Brief an Max Kalbeck, zit. n. A. Mahler 1924, S. 296.
Nach eigenen Worten sucht Mahler die Inspiration für die Programme seiner Werke in der Realität, der Außenwelt um sie dann in eine kompositorische Form zu bringen. Die Natur stellt für Mahler eine der wichtigsten Inspirationsquellen dar. So versucht er stets, seine natürliche Intuition mit der Arbeit seines Geistes in einem harmonischen Verhältnis zu verbinden. Die Folge seiner Inspiration durch die Außenwelt sind jene Töne, die Kritiker oft als »banal« empfinden: Vogelrufe, Fanfaren, populäre Musik oder Militärmärsche – als solche typisch programmatische Elemente. Doch Programmatik wird bei Mahler nicht zur bloßen Nachahmung. Sein Anliegen, durch die Musik sowohl in musikhistorischer als auch gesellschaftlicher Hinsicht »Wahrheit zu reflektieren«, findet in diesen Mitteln ihren Ausdruck. Sie sind nicht programmatisch im herkömmlichen Sinne. Sie sind vielmehr ein Bekenntnis der Gefühle, die Mahler beim Anblick der Außenwelt empfindet, sie sind ein Symbol für jene Außenwelt, weniger ihr Abbild. Auf diese Weise wird der Mensch Zentrum seines musikalischen Ausdrucks – der »ganze (also fühlende, denkende, atmende, leidende) Mensch.«122
122 G. Mahler, Brief an Bruno Walter, zit. n. A. Mahler 1924, S. 277; vgl. auch Schreiber 1997, S. 130.
Sowohl in seinen Sinfonien als auch in seinen Liedern erteilt er diesem das Wort.

Indem Mahler »Naturschönheiten«, die »Ureinfalt des Schönen«123

123 Dieter Schnebel: »Das Schöne an Mahler.« In: Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hrsg.): Gustav Mahler. Musik-Konzepte Sonderband. München 1989, S. 209.
musikalisch stilisiert, schließt er an die auf Kant zurückreichende Tradition an: die Vorstellung, der innerste Kern des kompositorischen Schaffensvorganges sei eine Manifestation von Natur, der Kompositionsakt ein Naturereignis. Das »Genie« sei die angeborene Gemütslage, durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt. Die Tatsache, daß das Genie im 19. Jahrhundert nicht »die Natur«, sondern ein stilisiertes Symbol der Natur präsentiere, bestätigt, daß die romantische Genieästhetik, der Mahler verpflichtet war, grundsätzlich auch eine Naturphilosophie der Kunst sei.124
124 Hermann Danuser: Gustav Mahler und seine Zeit. Laaber, 1991, S. 67.
Auffällig ist, daß Mahler stilisierte Naturschönheiten stets durch Schmerz und Tod getrübt werden. Eine ambivalente Bewegung, die sich durch viele seiner Werke zieht. Dadurch wird Schönheit letztlich selbst zur Qual, erfüllt von gemischten Gefühlen, die wiederum dem Menschen ganz zu eigen sind. So gerät Mahler das Schöne, zu dem er durch seine Naturphilosophie ein ursprüngliches Verhältnis hat, selbst zur Pein. Dies zeigt er gerade in seinen langsamen Sätzen, in denen in einer zarten Melodie plötzlich einen Bruch in Ausdruck und Form einstreut, indem er in Dissonanzen ausweicht.125
125 Schnebel 1989, S. 210.

»Naturschönheiten« auf der einen Seite, Stilisierung auf der anderen sind in der Musik jedoch nur scheinbare Antinomien. Die Musik des späten 19. Jahrhunderts »lebt« von beiden: der klassischen Tradition und der Trivialität des Alltagslebens. Nur im Zusammenspiel beider ergibt sich ein symphonischer Konflikt, aus dem der Komponist im Finale als Sieger hervorgeht oder den Untergang erleidet. Aldous Huxley bringt diesen Zwiespalt auf den Punkt, wenn er sagt: »There is no reason, after all, why the Chemically Impure and the Chemically Pure, the Whole Truth and the Partial Truth, should not exist simultaniously, each in its seperate sphere. The human spirit has need of both.«126

126 Aldous Huxley, zit. n. Cooke 1988, S. 17.

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