- 259 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Konservatismus lebt. Für die Erfahrung eines Künstlers in der Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts ergeben sich daraus zwei Varianten ästhetischer Reaktion: zum einen eine ästhetische Haltung, die sich in eine vermeintliche Autonomie der Kunst flüchtet, die gleichzeitig als Resignation auf die nicht eingelösten Hoffnungen von bürgerlicher Revolution verstanden werden kann – eine Flucht vor der Realität in eine Art »Kunstreligion«. Zum anderen ergibt sich eine Position, die die Trennung von Politik und Gesellschaft ins Offensive kehrt und auf diesem Wege Kunst benutzt, um politische und gesellschaftliche Veränderungen bewirken zu können. Beide Positionen lassen sich als regressive Reaktionen auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse verstehen, die den als destruktiv empfundenen neuen gesellschaftlichen Tendenzen eine Kunst entgegensetzt, die sich noch auf eine Vorstellung vom »geschlossenen Ganzen« beruft.118
118 Bermbach, S. 65–67.

Mahler vereinigte beide Tendenzen. Als sein musikalisches Medium wählte er die Sinfonie. Einer seiner bedeutungsvollen Vorgänger auf diesem Gebiet war Beethoven. In diesem Zusammenhang wird Mahler oft als der »letzte große Symphoniker in der Tradition Beethovens« bezeichnet. Und dies nicht nur aus der Tatsache heraus, daß nach ihm die musikalische Produktion vorwiegend in Kammermusikwerken heimisch wurde. Er hat vielmehr bei den Versuchen der Komponisten des 19. Jahrhunderts, Beethovens Symphonik fortzusetzen, ein völlig eigenständiges und endgültiges Schlußwort gesprochen. Damit vollendete er die »österreichische« Linie, die mit Franz Schubert und Anton Bruckner als ihrer stärksten Elementarkraft der Beethovenschen Tradition gefolgt sind. Schreiber nennt in Anlehnung an Bekker119

119 Paul Bekker: Gustav Mahlers Sinfonien. Tutzing 1969, S. 11–12.
zwei weitere Gruppen, die im 19. Jahrhundert eine Weiterführung der Sinfonie vollzogen: die »mitteldeutsch-romantische« mit Mendelssohn, Schumann und Brahms, die jedoch formal gesehen nicht über Beethoven hinausreichten, und die »Programmsymphoniker« von Berlioz über Liszt bis Strauss. Letztere zogen die viersätzige Anlage der Sinfonie zu einer einsätzigen »Symphonischen Dichtung« zusammen. Mahlers Sinfonien haftet der Beethovensche Monumentalgedanke an. Doch im Gegensatz zu dessen sinfonischer Kürze und jenem logisch zwingenden Ablauf seiner Werke, waren Mahlers oder Bruckners Sinfonien Werke des organischen Wachsens, des allmählichen Ansteigens zu einem Ziel.120
120 Schreiber 1997, S. 128.
Das Problem läuft auf die Gestaltung des Finalsatzes hinaus. Architektonisch sind sie so nach vorn hin konzipiert, damit frei von jedem Formenschematismus. Auf diese Weise liegt der Sinn der Sinfonie für Mahler im übergeordneten Bauprinzip, im »Rhythmus des Gesamtablaufes«.

Das Bauprinzip ist das »Programm« der Sinfonie, das auf den Finalsatz hinausläuft. Mit Werken wie der Eroica oder der Pastorale schuf Beethoven bereits die Sinfonie in Annäherung an die Programmusik. Doch die klassische gestraffte Form läßt die Programmatik der Sinfonie eher unterschwellig erscheinen. Als solche ist sie besonders in der Pastorale denn auch »mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei«. Mahlers »Programmatik« unterscheidet sich jedoch von der eines Berlioz oder Liszt. Er lehnte es ab, seine Programme mit Worten zu umschreiben, da diese bereits wieder konkrete stereotype Bilder hervorrufen, die im Werk dann lediglich nachgeahmt oder abgebildet würden. Dies führe zu Mißdeutungen »schlimmster Sorte«. In seinen späteren Sinfonien hat er daher vollständig auf Titel verzichtet


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