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Mahler und die Sinfonie

In einer Zeit, in der die Menschheit ihr Vertrauen in religiöse Doktrinen verloren hatte, sahen Künstler wie Wagner, Mahler, Rodin oder Rilke eine Notwendigkeit, ihre Ansichten über das Leben durch ihr Werk mitzuteilen. Eine Aufgabe, der sie ihre ganze menschliche Kraft widmeten. Die »Einheit der Welt« gibt es nicht mehr. Man kann sie nur in einer transzendentalen Weise für sich selbst herstellen und leben. Auch Mahler war davon besessen, eine ganz neue – zeitgemäße – Musik zu schaffen, in der das Rätsel der Zeit und der menschlichen Existenz bestätigt und gelöst werden soll.111

111 Cooke 1988, S. 8.
Diese Antinomien seines Innenlebens kehrte Mahler somit in seiner Musik nach außen, um sie letztlich zu überbrücken. Sein kompositorisches Credo lautet: »Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen.«112
112 G. Mahler 1895 zu Bauer-Lechner, zit. n. Killian 1984, S. 35.
Dieser Ausspruch sei, so Stenger, ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis der Mahlerschen Tonsprache. Er ließe bewußt werden, daß sich die Wahl seiner kompositorischen Mittel nicht in ihrem rein gestalterischen Moment erschöpft, sondern über sich hinausweist.113
113 Stenger 1998, S. 9.
Mahlers Ansicht nach gilt der »Parallelismus zwischen Leben und Musik«114
114 G. Mahler, Brief an Max Marschalk vom 17. Dezember 1885, zit. n. Blaukopf 1982, S. 141.
. Der Künstler sei der Individualist, der sich (dem Genie-Kult entsprechend) jeder sozialen Einbindung enthält, sogar die Möglichkeiten einer Integration ignoriert. In einem »heroischen Akt« erschafft er ganz auf sich allein gestellt im Zuge der kreativen Eingebung sein eigenes einheitliches Weltbild, das der gespaltenen Gesellschaft überlegen ist.115
115 Bermbach 1989, S. 68–71.
Mahlers sinfonisches Weltbild ist nicht statisch, sondern die Vorstellung einer dynamischen Bewegung, die das Trivialste ebenso miteinbezieht wie das Sakrale. Nach der Uraufführung seiner achten Sinfonie im Jahre 1910 sendet Thomas Mann ihm ein Exemplar seines neuen Romans Königliche Hoheit zu, den er eine »bescheidene Gabe« für den Mann nennt, »in dem sich, wie ich zu erkennen glaube, der ernsteste und heiligste künstlerische Wille unserer Zeit verkörpert«116
116 Thomas Mann, zit. n. Carr 1996, S. 299–300.
, eine Charakterisierung, die in gewissem Sinne auf den fiktiven Komponisten Leverkühn im Doktor Faustus anwendbar ist.117
117 Carr 1996, S. 74/250.
Damit antizipierte Mahler in seinen Kompositionen Entwicklungen, die durch die Gesellschaft erst sehr viel später einzuholen sind.

Was ursprünglich in der Frühphase bürgerlicher Gesellschaftstheorie in der Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts formuliert wurde, nämlich Freiheit und Gleichheit des Individuums, verfällt im 19. Jahrhundert als Folge gesellschaftlicher Umwälzungen durch die Industrialisierung. Die Theorie hält zwar an jenem Verdikt von Freiheit und Gleichheit fest, wird jedoch zugleich erschüttert durch einen Konservatismus der gescheiterten Deutschen Revolution bis hin zur vollkommenen Negation des Bürgertums beispielsweise durch Marx. Es entsteht eine verlogene Diskrepanz zwischen den eigentlich bürgerlichen Idealen der Aufklärung wie Freiheit und Gleichheit und der Gesinnung des aristokratischen Großbürgertums des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das als vermeintlicher Träger dieser Ideale dennoch den durch die gescheiterte Revolution »gesicherten«


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