Mahler und die Sinfonie
In einer Zeit, in der die Menschheit ihr Vertrauen in religiöse Doktrinen verloren hatte,
sahen Künstler wie Wagner, Mahler, Rodin oder Rilke eine Notwendigkeit, ihre
Ansichten über das Leben durch ihr Werk mitzuteilen. Eine Aufgabe, der sie ihre ganze
menschliche Kraft widmeten. Die »Einheit der Welt« gibt es nicht mehr. Man kann sie
nur in einer transzendentalen Weise für sich selbst herstellen und leben. Auch Mahler
war davon besessen, eine ganz neue – zeitgemäße – Musik zu schaffen, in der das
Rätsel der Zeit und der menschlichen Existenz bestätigt und gelöst werden
soll.111
Diese Antinomien seines Innenlebens kehrte Mahler somit in seiner Musik nach
außen, um sie letztlich zu überbrücken. Sein kompositorisches Credo lautet:
»Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt
aufbauen.«112
112 G. Mahler 1895 zu Bauer-Lechner, zit. n. Killian 1984, S. 35.
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Dieser Ausspruch sei, so Stenger, ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis der
Mahlerschen Tonsprache. Er ließe bewußt werden, daß sich die Wahl seiner kompositorischen
Mittel nicht in ihrem rein gestalterischen Moment erschöpft, sondern über sich
hinausweist.113
Mahlers Ansicht nach gilt der »Parallelismus zwischen Leben und
Musik«114
114 G. Mahler, Brief an Max Marschalk vom 17. Dezember 1885, zit. n. Blaukopf 1982,
S. 141.
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Der Künstler sei der Individualist, der sich (dem Genie-Kult entsprechend) jeder sozialen
Einbindung enthält, sogar die Möglichkeiten einer Integration ignoriert. In einem
»heroischen Akt« erschafft er ganz auf sich allein gestellt im Zuge der kreativen
Eingebung sein eigenes einheitliches Weltbild, das der gespaltenen Gesellschaft überlegen
ist.115
115 Bermbach 1989, S. 68–71.
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Mahlers sinfonisches Weltbild ist nicht statisch, sondern die Vorstellung einer
dynamischen Bewegung, die das Trivialste ebenso miteinbezieht wie das Sakrale.
Nach der Uraufführung seiner achten Sinfonie im Jahre 1910 sendet Thomas
Mann ihm ein Exemplar seines neuen Romans Königliche Hoheit zu, den er
eine »bescheidene Gabe« für den Mann nennt, »in dem sich, wie ich zu
erkennen glaube, der ernsteste und heiligste künstlerische Wille unserer Zeit
verkörpert«116
116 Thomas Mann, zit. n. Carr 1996, S. 299–300.
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, eine
Charakterisierung, die in gewissem Sinne auf den fiktiven Komponisten Leverkühn im Doktor Faustus
anwendbar ist.117
117 Carr 1996, S. 74/250.
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Damit antizipierte Mahler in seinen Kompositionen Entwicklungen, die durch die
Gesellschaft erst sehr viel später einzuholen sind.
Was ursprünglich in der Frühphase bürgerlicher Gesellschaftstheorie in der
Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts formuliert wurde, nämlich Freiheit und Gleichheit
des Individuums, verfällt im 19. Jahrhundert als Folge gesellschaftlicher Umwälzungen
durch die Industrialisierung. Die Theorie hält zwar an jenem Verdikt von Freiheit
und Gleichheit fest, wird jedoch zugleich erschüttert durch einen Konservatismus der
gescheiterten Deutschen Revolution bis hin zur vollkommenen Negation des Bürgertums
beispielsweise durch Marx. Es entsteht eine verlogene Diskrepanz zwischen den eigentlich
bürgerlichen Idealen der Aufklärung wie Freiheit und Gleichheit und der Gesinnung des
aristokratischen Großbürgertums des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das als vermeintlicher
Träger dieser Ideale dennoch den durch die gescheiterte Revolution »gesicherten«
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