Der Tod begegnet Mahler nicht nur in Form von politischen Ereignissen, sondern bereits
in frühester Kindheit in seiner Familie. Gustavs jüngerer Bruder stirbt im Alter von
dreizehn Jahren, seine Schwester Leopoldine stirbt im Jahre 1889 – im selben Jahr wie
seine Eltern – im Alter von erst 26 Jahren. 1895 macht sein Bruder Otto, erst 21 Jahre
alt, seinem Leben mit der Kugel ein Ende. Die »Splendid Isolation«, wie Gustav
und Alma Mahler die Jahre ihrer sommerlichen Zurückgezogenheit nannten,
beendet jäh der Tod ihrer ältesten Tochter Maria Anna, die kurz nach der
Ankunft der Familie in Maiernigg im Sommer 1907 an Scharlach und Diphterie
erkrankt und ein paar Wochen später stirbt. Zwei Jahre zuvor hatte Mahler
den Zyklus seiner Kindertotenlieder veröffentlicht. Hier konnte er noch nicht
ahnen, daß das Leben seiner Kunst auf diese Art und Weise auf den Fersen
war.105
Grausamkeit und Tod gehen bei Mahler einher mit der Frage nach dem Wert des Lebens. Cooke relativiert hier jedoch die Bedeutung des Todes. So sehr Mahler auch innerlich von dem Todesgedanken besessenen wäre, so sei dieser doch ein Produkt seines instinktiven Glaubens an das Leben.106 Die Umbrüche seiner Zeit geben ihm dennoch Rätsel auf, die ihn quälenden Daseinsfragen gipfeln in der in den Titeln der Lieder angedeuteten Ambivalenz zwischen Empirie und Transzendenz.107 Das Rätsel der menschlichen Existenz, die einerseits durch die für ihn ernüchternde Ablehnung seiner Werke durch seine Zeitgenossen (Mahler: »Muß man denn immer erst tot sein, bevor einen die Leute leben lassen?«108), Schmerz und Tod, andererseits durch seinen ungebändigten Drang nach Leben und Individualität sowie seiner Sehnsucht nach Glück und Ruhe charakterisiert wird, beschäftigt Mahler kontinuierlich. Auf seine in jenen unruhigen Zeiten immerwährende Frage, »was die Welt im Innersten zusammenhält« (Faust) sucht er eine Antwort in den Naturwissenschaften und in der deutschen romantischen Literatur, in der Philosophie Schopenhauers und Nietzsches. Letzteren »verschlang« er besonders während seiner Hamburger Zeit. Mahler konnte nicht wie Bruckner auf einen geerbten Glauben zurückfallen, denn er akzeptierte weder die jüdische Religion noch den katholischen Glauben, obwohl die Sphäre der katholischen Mystik eine starke Anziehung auf ihn ausübte.109 Auch konnte er sich als »Spätromantiker« der Frage des Hedonismus nicht verweigern noch ihn vollständig annehmen wie etwa Delius. Schreiber faßt präzise die Widersprüche, die sich in Mahlers Persönlichkeit vereinen als Ergebnis einer Zeit zusammen, die im Umbruch begriffen ist: »Eine oft entwaffnende Naivität vertrug sich mit scharfem, kritischem Intellekt; Festhalten an der Tradition, der er entstammte, mit einem rastlos experimentierenden Geist; tiefe Naturgläubigkeit mit einer von Zweifeln erschütterten Seele; lapidarer Ausdruck mit monumentalem Pathos; Lied mit Symphonie. Mahler liebte das Leben mit allen seinen Sinnen und war zugleich ein asketischer Mystiker im Geiste; er wußte sich mit Geschick in seiner Umwelt zu behaupten und war doch allen Möglichkeiten der Utopie und der Träume verfallen.«110
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