»Die höchste Glut der freudigsten Lebenskraft und die verzehrendste Todessehnsucht:
beide thronen abwechselnd in meinem Herzen; [...] eines weiß ich: so kann
es nicht mehr fortgehen! Wenn mich der scheußliche Zwang unserer modernen
Heuchelei und Lügenhaftigkeit bis zur Selbstentehrung getrieben hat, wenn
der unzerreißbare Zusammenhang mit unseren Kunst- und Lebensverhältnissen
imstande war, mir Ekel vor allem, was mir heilig ist, Kunst, Liebe, Religion,
ins Herz zu schleudern, wo ist dann ein anderer Ausweg als Selbstvernichtung.
Gewaltsam zerreiße ich die Bande, die mich an den eklen schalen Sumpf des
Daseins ketten, mit der Kraft der Verzweiflung klammere ich mich an den
Schmerz, meinen einzigen Tröster.«101
101 G. Mahler, Brief an Josef Steiner vom 17. Juni 1879, zit. n. Mathias Hansen: Gustav
Mahler – Briefe. Leipzig 1981, S. 54.
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Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund flüchtete Mahler gerne privat in die Rolle
des heroischen Künstlers, der seine Existenz gegen die Gesellschaft abzuschotten
versucht. Dies zeigt sich besonders an seinem Rückzug in die Alpen. Um komponieren zu
können, mußte er sich von der Welt zurückziehen, er muß »der Welt abhanden
gekommen sein«, wie er es in einem seiner Rückert-Lieder ausdrückt. Die Schaffung eines
Werkes wird für ihn zu einem »mystischen Prozeß«, den man kaum begreift,
wenn das Werk fertig ist. Mit dieser von ihm selbst als positiv empfundenen
Irrationalität grenzte er sich ab gegen die Rationalität einer als fremd empfundenen
Industriegesellschaft, in der »der unzerreißbare Zusammenhang mit unseren Kunst- und
Lebensverhältnissen«102
102 G. Mahler 1879, zit. n. Blaukopf 1982, S. 8.
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nicht mehr vorhanden ist. In dem oben zitierten Brief an Steiner schwelgt er denn auch
in glühend poetischer Erkenntnis über den Wert der Natur, in der Einflüsse Kants
und Schopenhauers, E.T.A. Hoffmanns und besonders Jean Pauls nicht zu
übersehen sind, deren Lektüre er als Student den Vorlesungen stets vorgezogen
hatte:
»Da lacht die Sonne mich an – und weg ist das Eis von meinem Herzen,
ich sehe den blauen Himmel wieder und die schwankende Blume, und mein
Hohnlachen löst sich in das Weinen der Liebe auf. Und ich muß sie lieben,
diese Welt mit ihrem Trug und Leichtsinn und mit dem ewigen Lachen. O,
daß ein Gott den Schleier risse von meinen Augen, daß mein klarer Blick bis
an das Mark der Erde dringen könnte! O, ich möchte sie schauen, diese Erde,
in ihrer Nacktheit, ohne Schmuck, ohne Zierde, wie sie vor ihrem Schöpfer
daliegt; ich wollte dann hintreten vor ihren Genius. [...] Aus dem Tal der
Menschheit tönt’s zu dir herauf, zu deiner kalten einsamen Höhe! Begreifst
du den unsäglichen Jammer, der sich da drunten durch Äonen zu Bergen
gehäuft hat? [...]«103
103 G. Mahler 1879, zit. n. Blaukopf 1982, S. 8–9.
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Mahler liebte die Natur, nicht nur ihre Idylle, sondern seine Ehrfurcht galt ebenso
dem Ungebärdigen und Wilden der Schöpfung. Hier kündigt sich bereits der
Symphoniker an, der seine Botschaft an die Menschheit richtet. Mahlers Drang nach
philosophischer Erkenntnis zeigt sich ebenso wie auch eine »glühende Natur- und
Gottessehnsucht« (Schreiber) – und dies besonders in seinen jungen Jahren
stets gepaart mit einer Todessehnsucht, die oben bereits anklang. In diesem
Punkt erweist er sich als junger Mensch mit all seinen Gefühlsschwankungen
und seiner intensiven Empfindungsfähigkeit mehr denn je als ein »Erbe« der
Frühromantiker.104
104 Vgl. auch Hans Heinrich Eggebrecht: Die Musik Gustav Mahlers. München/Zürich 1982,
S. 268–269; Rudolf Flotzinger: »Mahler – ein Romantiker?« In: Kolleritsch 1977,
S. 40–51.
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