- 256 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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»Die höchste Glut der freudigsten Lebenskraft und die verzehrendste Todessehnsucht: beide thronen abwechselnd in meinem Herzen; [...] eines weiß ich: so kann es nicht mehr fortgehen! Wenn mich der scheußliche Zwang unserer modernen Heuchelei und Lügenhaftigkeit bis zur Selbstentehrung getrieben hat, wenn der unzerreißbare Zusammenhang mit unseren Kunst- und Lebensverhältnissen imstande war, mir Ekel vor allem, was mir heilig ist, Kunst, Liebe, Religion, ins Herz zu schleudern, wo ist dann ein anderer Ausweg als Selbstvernichtung. Gewaltsam zerreiße ich die Bande, die mich an den eklen schalen Sumpf des Daseins ketten, mit der Kraft der Verzweiflung klammere ich mich an den Schmerz, meinen einzigen Tröster.«101
101 G. Mahler, Brief an Josef Steiner vom 17. Juni 1879, zit. n. Mathias Hansen: Gustav Mahler – Briefe. Leipzig 1981, S. 54.

Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund flüchtete Mahler gerne privat in die Rolle des heroischen Künstlers, der seine Existenz gegen die Gesellschaft abzuschotten versucht. Dies zeigt sich besonders an seinem Rückzug in die Alpen. Um komponieren zu können, mußte er sich von der Welt zurückziehen, er muß »der Welt abhanden gekommen sein«, wie er es in einem seiner Rückert-Lieder ausdrückt. Die Schaffung eines Werkes wird für ihn zu einem »mystischen Prozeß«, den man kaum begreift, wenn das Werk fertig ist. Mit dieser von ihm selbst als positiv empfundenen Irrationalität grenzte er sich ab gegen die Rationalität einer als fremd empfundenen Industriegesellschaft, in der »der unzerreißbare Zusammenhang mit unseren Kunst- und Lebensverhältnissen«102

102 G. Mahler 1879, zit. n. Blaukopf 1982, S. 8.
nicht mehr vorhanden ist. In dem oben zitierten Brief an Steiner schwelgt er denn auch in glühend poetischer Erkenntnis über den Wert der Natur, in der Einflüsse Kants und Schopenhauers, E.T.A. Hoffmanns und besonders Jean Pauls nicht zu übersehen sind, deren Lektüre er als Student den Vorlesungen stets vorgezogen hatte: »Da lacht die Sonne mich an – und weg ist das Eis von meinem Herzen, ich sehe den blauen Himmel wieder und die schwankende Blume, und mein Hohnlachen löst sich in das Weinen der Liebe auf. Und ich muß sie lieben, diese Welt mit ihrem Trug und Leichtsinn und mit dem ewigen Lachen. O, daß ein Gott den Schleier risse von meinen Augen, daß mein klarer Blick bis an das Mark der Erde dringen könnte! O, ich möchte sie schauen, diese Erde, in ihrer Nacktheit, ohne Schmuck, ohne Zierde, wie sie vor ihrem Schöpfer daliegt; ich wollte dann hintreten vor ihren Genius. [...] Aus dem Tal der Menschheit tönt’s zu dir herauf, zu deiner kalten einsamen Höhe! Begreifst du den unsäglichen Jammer, der sich da drunten durch Äonen zu Bergen gehäuft hat? [...]«103
103 G. Mahler 1879, zit. n. Blaukopf 1982, S. 8–9.

Mahler liebte die Natur, nicht nur ihre Idylle, sondern seine Ehrfurcht galt ebenso dem Ungebärdigen und Wilden der Schöpfung. Hier kündigt sich bereits der Symphoniker an, der seine Botschaft an die Menschheit richtet. Mahlers Drang nach philosophischer Erkenntnis zeigt sich ebenso wie auch eine »glühende Natur- und Gottessehnsucht« (Schreiber) – und dies besonders in seinen jungen Jahren stets gepaart mit einer Todessehnsucht, die oben bereits anklang. In diesem Punkt erweist er sich als junger Mensch mit all seinen Gefühlsschwankungen und seiner intensiven Empfindungsfähigkeit mehr denn je als ein »Erbe« der Frühromantiker.104

104 Vgl. auch Hans Heinrich Eggebrecht: Die Musik Gustav Mahlers. München/Zürich 1982, S. 268–269; Rudolf Flotzinger: »Mahler – ein Romantiker?« In: Kolleritsch 1977, S. 40–51.

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