Aus Frankreich erregte die skandalöse Dreyfus-Affäre die Gemüter. 1899 schließlich
eröffnete Sigmund Freud dem Menschen mit seiner »Traumdeutung« die Pforten zum
Unterbewußtsein.93
1897 ist auch das Jahr der sogenannten »Wiener Secession«: eine Gruppe bildender
Künstler, die sich um Gustav Klimt, Otto Wagner, Carl Moll, Kolo Moser und
Josef Hoffmann sammelte. Sie spalteten sich vom konservativen »Künstlerhaus«
ab und traten in der Zeitschrift Ver Sacrum für neue Gedanken zur Malerei,
Architektur und Plastik ein – ihre Parole: »Der Zeit ihre Kunst – der Kunst ihre
Freiheit.« Seit 1902 trat Mahler durch seine Frau Alma in freundschaftliche
Beziehung zu diesen Künstlern. Auch musikhistorisch gesehen markiert das Jahr
1897 den Beginn einer Wende. Johannes Brahms stirbt, ein halbes Jahr nach
Anton Bruckner. Im selben Jahr bringt Arnold Schönberg seine ersten Lieder zu
Papier:
»Das Alte starb ab, das Neue trat auf den Plan, und in der Mitte zwischen
beiden, mit dem »Alten« (Brahms) gerade noch befreundet, dem jungen Schönberg
aber bereits ein verständiger Mentor [...], in seiner Musik formal noch der
(tonalen) Tradition verhaftet, mit ihren »Inhalten« und seinem künstlerischen
Bewußtsein jedoch weit in unser Jahrhundert greifend, stand Gustav Mahler.«94
Damit ist Mahlers musikhistorische Position definiert. Die Widersprüche der Zeit spiegeln sich auch in seiner Persönlichkeit wider. Sein Leben lang steht er zwischen der Stellung des »Theatermenschen« und der des Komponisten. Berger charakterisiert seine Persönlichkeit mit den Titeln zweier seiner Lieder aus Des Knaben Wunderhorn: »Irdisches Leben« und »Himmlisches Leben«. Schilderungen Mahlers als einer fast schon dämonischen Gestalt stehen denen gegenüber, in denen er als ein »großes Kind« porträtiert wird, dessen Hingabefähigkeit und »Unschuld des Fühlens« den anderen Pol seines Wesens bildet: seelisches Jungsein kontra feurige Dämonie.95 Die Titel der Lieder könnte man ebenso wie Bergers Ausführungen analog auf Mahlers Selbstverständnis als Künstler und Mensch übertragen: hier stehen sich asketisches Arbeitsethos und seine Affinität zur Natur kontinuierlich gegenüber. »Korrektheit ist die Seele einer Kunstleistung«96 – dies war Mahlers Leitspruch bei der Arbeit. Seiner Beliebtheit war dieses Arbeitsethos nicht gerade förderlich, denn er war ein unermüdlicher Probierer, ein Präzisionsfanatiker. Sowohl als Komponist als auch als Dirigent fordert er seine Kraft zweifach heraus. Während der Wiener Theatersaison zerrieb er sich in unzähligen Kämpfen und Intrigen, wirkte er machtvoll mit unerbittlicher Strenge und Konsequenz. Sein Ehrgeiz wollte nichts dem Zufall überlassen. Bereits in seiner Antrittsrede als Direktor der königlich ungarischen Oper in Budapest ließ er gegenüber seinen Kollegen verlauten: »Strengste Pflichterfüllung des Einzelnen und vollstes Aufgehen und Hingabe an das Ganze – dies sei der Wahlspruch, welchen wir auf unsere Fahne |