- 253 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (252)Nächste Seite (254) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

des Komponisten zur bürgerlichen Gesellschaft hergestellt werden. Dies allerdings nicht in dem Sinne einer Überlegung, die zwischen Gesellschaft und Musik eindeutig zuschreibbare Kausalitäten herstellen möchte (dies wäre sowieso nicht möglich), sondern vielmehr in der Überzeugung, daß die Gesellschaft als eine allgemeine und dennoch zugleich fundamentale Bedingung von ästhetischer Produktion verstanden werden kann und damit einen »Sinnhorizont« bietet. Mahlers Welt- und Gesellschaftsanschauung ist durch einen ständigen Bezug zur Kunst geprägt: »Kunst als Ausdruck einer Innenwelt, die von der Wirklichkeit zwar verursacht und beinhaltet wird, jedoch als Imaginations-welt des Subjekts von der Wirklichkeit strikt getrennt ist.«88
88 G. Mahler, Brief an Max Kalbeck vom 20. November (vermutl.) 1900, zit. n. Herta Blaukopf (Hrsg.): Gustav Mahler – Briefe. Wien/Hamburg 1982, S. 254.
Insofern erfordert die Schilderung seiner Persönlichkeit eine kurze Spektralanalyse seiner Zeit. Der Präzision halber wollen wir uns im folgenden auf seine Wiener Zeit (1897–1907) beschränken, in der auch die im Film zitierte fünfte Sinfonie entstand.

Fünf Wochen nach seiner »Berufung zum Gott der südlichen Zonen« - seine Ernennung zum Direktor der Wiener Hofoper – schreibt Mahler, in Wien halte man ihn allgemein »für einen reizend liebenswürdigen Gesellschafter«. Sein Kommentar: »Brrr! Wie sich die wundern werden!«89

89 G. Mahler, Brief an Adele Marcus vom 18. Juni 1897, zit. n. A. Mahler 1924, S. 242.
Diese Bemerkung, so Schreiber90
90 Schreiber 1997, S. 77–78.
, fasse das Alte und Neue in Wien zusammen – Gegensätze, die sich wie kaum in einer zweiten Stadt begegneten und bekämpften. Hier Tradition, dort Aufbruch, die in Mahlers Persönlichkeit wie in einem Brennspiegel aufeinanderstießen. Das Wien der Jahrhundertwende ist eine Zeit des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umbruchs. Musils »Kakanien«, über dessen Auflösung er dreißig Jahre später in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften bilanziert, erlebte mit seiner letzten glänzenden Blüte zugleich seinen Untergang, die Donaumonarchie starb langsam aber sicher ab. Schreiber zeichnet ein anschauliches Porträt des Wiens der Jahrhundertwende: »Adel, Militär, Großbürgertum und eine funktionierende Beamtenhierarchie, ausgerichtet auf das Symbol des legendären Monarchen Franz Joseph I.; das »gemütliche« Wien und seine Gesellschaft mit ihren Bällen, Praterausfahrten und Landpartien, einer behäbigen, sich in Schöngeisterei gefallenen Feuilletonpresse samt den dazugehörigen Literaten in ihren Kaffeehäusern; Wien, die »Ewige Stadt« der Musik und der Fiaker, der vollblutigen Frauen und des Weins – diese in Jahrhunderten gewachsene und scheinbar intakt sich bewegende Welt mochte noch für lange Zeit von Bestand sein.«91
91 Schreiber 1997, S. 79.

Doch die Zeit war kurz und schritt unaufhaltsam voran. Fremde Geräusche mischten sich in den »wohlklingenden« Alltag – Errungenschaften der Technik wie Automobile, elektrische Straßenbahnen oder das Rattern der Kinematographen. 1897 markiert ein markantes Jahr. Karl Lueger gewinnt mit seiner christlich-sozialen Partei in Wien die Oberhand und wird Bürgermeister. Der Sozialdemokrat Victor Adler versammelte die Kräfte der Arbeiterschaft um sich und verkündete Georg Ritter von Schönerer mit Hilfe seines »Alldeutschen Verbandes« die Ziele des bürgerlichen Antisemitismus (seinem Dunstkreis entstammt später Adolf Hitler).92

92 Carr, Jonathan C.: Gustav Mahler. Biographie. München 1997, S. 44–45; vgl. auch Helmut M. Müller: Deutsche Geschichte in Schlaglichtern. Mannheim/Leipzig/Wien u.a. 1996, S. 202–203.

Erste Seite (i) Vorherige Seite (252)Nächste Seite (254) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 253 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik