gab allerdings Entwicklungen, die eine bewußte Alternative zu der oft erdrückenden
Erbschaft der Klassik boten. So rückten kleinere Formen wie das Klavierstück, die Bagatelle,
Lieder, Tänze oder Etüden, die in der Klassik lediglich eine periphere Existenz führten, in das
Zentrum kompositorischen Interesses. Zudem sah man besonders in der Klaviermusik in diesen
kleineren Formen ein geeignetes Forum, subjektiven, nationalen, folkloristischen u.ä.
Empfindungen Ausdruck zu verleihen.
Die Ideen der Frühromantiker waren gekennzeichnet durch die »Sehnsucht nach dem
Unendlichen« (A. W. Schlegel). Die Phantasie sollte zur »Triebfeder der Kunst« werden. Die
Folge: romantische Kunst wurde zum Ausdruck des reinen Subjektivismus, in dem die Grenze
zwischen Traum und Wirklichkeit fließend war. Der Sinn für das Individuelle bestimmte das
Ausdrucksvermögen, in dem das Interesse für das Unbewußte, die Nachtseiten der Natur und
die der menschlichen Existenz dominant waren. Der Geist des Menschen befreit sich von
einengenden klassischen Ordnungsprinzipien, um sein Schicksal selbst zu bestimmen
entsprechend seinen Bedürfnissen und Wünschen. Werke wie Beethovens Eroica reflektierten ein
gewisses Maß an humanistischem Optimismus. Doch mit dem Scheitern der Deutschen
Revolution im Jahre 1848 folgte die Ernüchterung, und jene humanistischen Ideale wurden
erschüttert. Gott, wie Nietzsche sagte, war tot; der Mensch wurde nun zu seinem eigenen
Gott. Die Folge war jener »Weltschmerz«, der Komponisten wie Schriftsteller dazu
verleitete, sich in ihren Werken in eine imaginäre Phantasiewelt zu flüchten, um ihre
unerfüllten Wünsche zu pflegen. Komponisten wie Strauss (Ein Heldenleben, 1899) oder
Delius lamentieren wehmütig über den Untergang romantischer Ideale und lassen ihre
Helden in bittersüßer Resignation versinken. Im späten 19. Jahrhundert treten die
»Erben« der frühen Romantiker in Erscheinung, noch immer beflügelt von dem Ideal,
die Welt »neu zu formen«, und dennoch nüchterner und vernünftiger aufgrund der
Erfahrungen der Geschichte. Das zentrale Problem der Spätromantiker war die Diskrepanz
zwischen dem Wunsch nach humanistischem Fortschritt und menschlicher Schwäche.
Mahler wurde als ein »Erbe« Beethovens und Wagners ebenso mit diesem Problem
konfrontiert.85
Gustav Mahler: der Mensch und seine Zeit
»Dualismus als Lebensprinzip«86 ,
»Musikalische Ambivalenz«87
– dies sind Schlüsselwörter auf dem Weg zu Mahlers Persönlichkeit und seiner Musik.
Beide zeichnen sich durch zahllose Widersprüche aus, die eine Annäherung an den
Komponisten nicht gerade leicht machen. Sie beginnen bereits bei seiner Nationalität. Er
wurde unter der österreichisch-ungarischen Monarchie geboren, seine Muttersprache war
Deutsch, zudem war er jüdischer Abstammung. So war er von Anfang an durch
Rassenspannungen gekennzeichnet. Er gehörte zu einer unpopulären österreichischen
Minderheit unter den Böhmen, zugleich gebührte er der unpopulären jüdischen
Minderheit unter den Österreichern. Das Gefühl von Exil begleitet ihn sein Leben lang.
Seine Aussage, er sei als Böhme in Österreich, als Österreicher unter Deutschen und als
Jude in der ganzen Welt dreifach heimatlos, wird in diesem Zusammenhang oft
zitiert.
Der Dualismus begleitet sein Leben wie auch sein gesamtes Werk. Jeder Mensch wird
durch die Gesellschaft geprägt, in der er lebt, so auch Mahler. So kann neben der
Annäherung an Mahlers Musik durch seine Persönlichkeit auch ein Bezug
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