Wenn man die Literatur zu Mahler sichtet, stellt man schnell fest, daß es zunächst die
beiden konventionellen Arten der Annäherung an den Komponisten gibt: zum einen die
musikwissenschaftliche Analyse seiner Werke, welche die formalen, tonalen, instrumentalen
und thematischen Aspekte ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt; zum anderen die
Biographie, die sich auf den Abriß seines Lebens und die Stationen seiner Werkproduktion
bezieht und darüber hinaus eine Verbindung zwischen Werk und der Persönlichkeit
Mahlers herzustellen versucht. Daneben läßt sich auch eine Annäherung denken, welche
die Musik Mahlers mit einem allgemeinen Konzept von bürgerlicher Gesellschaft in
Beziehung setzt. Denn: »Was Mahler hervorgebracht hat, ist musikalisch allein nicht zu
entschlüsseln.«75
75 Hans-Wilhelm Kulenkampff: »Widerbild der Welt. Totalität und Einspruch bei Gustav
Mahler.« In: Peter Ruzicka (Hrsg.): Mahler – eine Herausforderung. Ein Symposium.
Wiesbaden 1977, S. 15; vgl. auch Udo Bermbach: »Gustav Mahler – Komponist der
bürgerlichen Gesellschaft?« In: Matthias Theodor Vogt (Hrsg.): Das Gustav-Mahler-Fest:
Hamburg 1989; Bericht über den Internationalen Gustav-Mahler-Kongreß. Kassel/Basel/London
1989, S. 68–78.
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Die Tatsache, daß auch die Musikwissenschaft mit dem Mahler-Boom der sechziger Jahre den
Komponisten verhältnismäßig spät entdeckt hat und daher sowohl seine Persönlichkeit als auch
die Prinzipien seines Werkes heute noch viele Fragen aufwerfen, verleitet manche Autoren
dazu, Mahler als Genie zu mystifizieren und damit den »Genie-Kult« des späten 19.
Jahrhunderts einfach zu übernehmen, ohne ihn je zu entschlüsseln. Als solche sind die
wissenschaftlichen Monographien zu seiner Person und seinem Werk oft irreführend und
unbrauchbar, da zu subjektiv. Um die These über den Kontext des betreffenden Werkes im
Film überprüfen zu können, sind möglichst objektive Ausführungen vonnöten, da
ein möglicher Transfer in den fiktiven Kontext einer filmischen Dramaturgie nicht
feststellbar ist, wenn sich bereits um die musikalische Quelle ein unantastbarer Mythos
rankt. Aus diesem Grunde soll hier – auch in Annäherung an die Ausführungen von
Schreiber76
76 Wolfgang Schreiber: Gustav Mahler. Reinbek 1997.
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– vor allem mit Hilfe der Briefe ein möglichst authentischer Einblick in die Persönlichkeit, Leben
und Werk des Komponisten gegeben werden, der sich bemüht, den drei genannten Ansätzen
Rechnung zu tragen.
Musikästhetische Tendenzen der Epoche
Mahler ist zunächst der sogenannten »Spätromantik« zuzuordnen. Die Epoche
der musikalischen Romantik, besonders der Spätromantik, birgt zahlreiche
unterschiedliche Aspekte: »at its best it is an exploration of the wonder
and mystery of life, and of the powerful unconscious urges which impel
human action; at its worst, an addiction to vague mystification and turgid
sentimentality«77
77 Deryck Cooke: Gustav Mahler. An Introduction to his Music. London 1988,
S. 6.
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so faßt Cooke die Gegensätze jener Epoche zusammen.
Der Versuch, die Romantik politisch, sozialgeschichtlich oder musikalisch zu fixieren,
ist zum Scheitern verurteilt. Sie ist lediglich eine von vielen Tendenzen, die die
Geschichte des 19. Jahrhunderts geprägt haben. Eine »Epoche der Romantik«
suggeriert einen einheitlichen romantischen Zeitgeist wie auch einen literarischen
oder musikalischen Epochenstil, den es nicht gibt. Insofern ist auch die
Musikkultur des 19. Jahrhunderts durch mehrere ästhetische und stilistische
Tendenzen beeinflußt, von denen die Romantik lediglich ein Teilphänomen
darstellt.78
78 Vgl. hierzu beispielsweise Friedich Blume: Epochen der Musikgeschichte in
Einzeldarstellungen. Kassel 1974, S. 307–385.
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Weitere
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