Zauberberg (entstanden 1912–1924) wird die Fremdsprache zur Sprache
der Liebe, des Unbewußten und der Verführung. Für den Protagonisten Hans
Castorp wird sie zu einer Methode des »parler sans parler«, eine unbewußte
Verständigung.66
Auch für Aschenbach bedeutet sie zweifellos eine Einbruchstelle des Unbewußten
und Ursprung seiner Phantasien. Damit wird der Zweideutigkeit der Musik die
Zweideutigkeit der Sprache zur Seite gestellt. In dieser Musikantenszene werden
Fremdsprache und Lied verknüpft, der zweideutige Ausdruck der Musik dadurch
unterstrichen, vor der die Diskurse der Vernunft verstummen. Durch den wilden
textlosen, da unverständlichen Gesang, der zudem noch mit obszönen Gebärden des
Sängers unterlegt ist, wird Musik mit Sexualität verknüpft. Dadurch wird sie zu einem
vorausdeutenden Träger des Sinnlichen und Unbewußten.
Visconti demonstriert hier zugleich seine persönliche Anspielung auf Klassenunterschiede: auf der einen Seite sitzt das behäbige Großbürgertum auf der Terrasse des vornehmen Des Bains, das – wie Tadzios Mutter – die Anwesenheit der Sänger als lästig und unzumutbar empfindet, auf der anderen Seite spielt die untere Schicht der Straßenmusikanten. Die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit, was nicht zuletzt in der unverstellten Geste des Sängers deutlich wird, in welcher er der Gesellschaft die Zunge herausstreckt. Diese ist nicht seine Welt. Das Motiv der Falschheit wird auch im Reisebüro (Szene 42) wiederum offenbar, als der Angestellte Aschenbachs Frage der Desinfizierung zunächst ausweichend beantwortet. Eine Unaufrichtigkeit, die auch charakteristisch ist für die Touristen Venedigs, letztlich für das Großbürgertum. Mit Aschenbachs Hinwendung zum Dionysischen wird auch das Motiv des Todes und der moralischen Dekadenz immer dominanter. Nachdem Aschenbach von der Seuche erfahren hat, entschließt er sich dagegen, Tadzios Familie aufzuklären, da er die Trennung von diesem fürchtet. Damit demonstriert er seine Abkehr von bürgerlicher Ordnung: seine heile Welt bricht endgültig zusammen, was er mit den Worten illustriert: »Auf welchen Wegen bin ich?« Als ob Visconti das Motiv noch eindringlicher hervortreten lassen wollte, schließt sich sogleich die Rückblende mit dem Tod der Tochter an. Als letzte Steigerung des Motivs von Tod und Dekadenz muß Aschenbachs Besuch beim Friseur gelten. Dennoch ist diese Szene 46 das Moment der letzten Spannung, da sie die Schlußwirkung der Tragödie – Aschenbachs Tod – zunächst verzögert, letztlich intensiviert. Zunächst ein wenig erschreckt, dann jedoch mit sich und der Welt scheinbar zufrieden, akzeptiert Aschenbach sein künstliches jugendliches Antlitz. Das Motiv der entfliehenden Zeit spielt hier eine entscheidende Rolle, da Aschenbach sich zunächst der Illusion hingibt, durch seine jugendliche »Maske« seine längst abgelaufene Zeit zurückdrehen und wieder seine Jugend gewinnen zu können. Eine Szene, die trotz aller Groteske eine – wenn auch entfernte – Hoffnung auf eine andere Lösung als seinen Untergang in Aussicht stellt. Dennoch ist die Dekadenz unverkennbar: auch hier wird er wie sooft ein Opfer der Verfügungen der Außenwelt, zu der er keinen Kontakt hat. Die Schminke, die der Friseur ihm aufträgt, wird zur Maske, unter welcher der moralische, aber auch der körperliche Verfall Aschenbachs seinen Lauf nimmt, denn er infiziert sich mit der Seuche. Als solche ist seine »Verjüngung« auch ein Symbol des Falschen und Unechten. |