- 245 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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stellt sich eine Bräunliche, in spanischem Jäckchen, mit großem Mund, Stumpfnase und Mandelaugen, Esmeralda, die streichelt mir mit dem Arm die Wange.«62
62 Mann 1995a, S. 192.
Visconti vollführt in Tod in Venedig eine wahre Kopie der literarischen Quelle. Wie Leverkühn, flieht Aschenbach später aus dem Bordell, um sich der Versuchung des Mädchens, das Jugend und Natürlichkeit repräsentiert, zu entziehen, ähnlich wie er sich anfangs Tadzio zu entziehen versucht. Der Unterschied zwischen dem Film und der literarischen Vorlage besteht jedoch darin, daß Leverkühn stets die dominante Figur bleibt, während sowohl Esmeralda als auch Tadzio gegenüber Aschenbach die dominanten Charaktere präsentieren. Beethovens Für Elise dient der gemeinsamen leitmotivischen Charakterisierung der beiden. Sie ähneln sich nicht nur rein äußerlich, sie sind ebenso Repräsentanten der idealen Schönheit, des triebhaft Natürlichen. Die Bedeutung dieser Rückblende liegt also in der Angleichung von Tadzio und Esmeralda, die zugleich durch das gemeinsame Beethoven-Stück suggeriert wird. Da sie für das »Abseitige« stehen, deuten beide letztlich auf Aschenbachs Untergang. Auf diese Weise werden sie zu »Todesengeln«. Während Aschenbach Esmeralda noch entfliehen konnte, hat die Natur nun in Form von Tadzio Gewalt über ihn, was den Worten Manns zufolge unweigerlich zum Tod führen muß, da seine Kraft überwiegt. Die Frage, warum Visconti gerade Für Elise als leitmotivische Charakterisierung heranzieht, die Gegenwart und Vergangenheit gleich einer Klammer zusammenhält, beantwortet Renner mit der »apokryphen Herkunft« des Stückes: ursprünglich hätte es Für Therese heißen müssen, als solches sei es eine sehr private Komposition Beethovens.63
63 Renner 1987, S. 147.
Die ungewisse Herkunft des Stückes korrespondiere zur Funktion der Musik als zunehmende Reflexion des Unbewußten und des langsamen Zurücktretens der Sprache und der Vernunft. Das Unausgesprochene gewinne an Bedeutung. Insofern, so Renner, fügt sich Beethovens Stück mit seiner ganz »privaten Mystik« in diese Linie ein. Eine mögliche Erklärung, die jedoch nicht unbedingt auf der Hand liegt, denn der Titel des verschollenen Autographen wirft selbst Musikwissenschaftlern noch Rätsel auf und kann von Visconti nicht unbedingt als bekannt vorausgesetzt werden. Schlüssiger wäre die Erklärung, daß Für Elise zu dieser Zeit wie auch heute noch ein ausgewiesenes populäres Salonstück war. Als solches garantiert es dem Zuschauer einen immensen Wiedererkennungswert.64
64 Vgl. Kap. 9.3.1.
Historisch gesehen ist es zwar das Aushängeschild der höheren Tochter, doch geht hier weniger um eine Rollenzuweisung als vielmehr um den Aspekt des Jugendlichen – Tadzio – der sich in einem großbürgerlichen Umfeld entfaltet. Die Tatsache, daß Für Elise durch eine direkte Überblende von der Prostituierten weitergespielt wird, weist dem Zitat nicht nur die syntaktische Funktion der musikalischen Verklammerung zu; das Stück überschreitet nicht nur die Sphäre zwischen Gegenwart und Vergangenheit, sondern wandert in eine vollkommen andere soziale Schicht – in das Milieu des Bordells. Die Sinnlichkeit, die schon allein durch den Ausdruckscharakter des Stückes getragen wird, ist beiden – Tadzio und Esmeralda – über die Grenzen sozialer Schichten hinaus zu eigen. Indem Visconti das Stück ausgerechnet einer Prostituierten an die Hand gibt, suggeriert er zusätzlich die triebhafte Variante des Sinnlichen als einer Versuchung des Geistes. Insofern dient

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