- 244 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Krankes kommen könne. Das Leben ist nicht heikel, und von Moral weiß es einen Dreck.«60
60 Mann 1995a, S. 318/326.

Bezeichnend ist bei allen Begegnungen zwischen Aschenbach und Tadzio, daß Aschenbach einsam bleibt. Der Junge ist stets umringt von Freunden oder seiner Familie. Aschenbach wird zum – wenn auch genießenden – aber dennoch voyeuristischen Beobachter aus der Ferne. Die Beziehung, die Visconti zwischen beiden darstellt, ist in erster Linie eine visuelle.

Das Motiv der Begegnung setzt Visconti erneut in Szene 21. Als Aschenbach den Frühstücksraum verläßt, wird er an der Tür mit Tadzio konfrontiert. Dessen provozierendes »Mona Lisa-Lächeln« veranlaßt Aschenbach zu einem kurzen Abschiedsgruß. Seine Begegnung mit dem an Cholera sterbenden Mann am Bahnhof ist eine weitere Ausführung dieses Motives (auch eine Erfindung Viscontis). Der Regisseur verbindet diese Eindrücke zu einer dichten Linie von Einstellungen, die er exakt im Schuß-Gegenschuß-Verfahren aufstellt. Dieser Vorfall ist Aschenbachs erste Konfrontation mit dem Tod in Gestalt der Cholera, die ebenso Symbol des Absterbens und Untergangs ist, als solche ein zentrales Thema bei Visconti. Die Tatsache, daß Aschenbach zum Lido zurückkehrt, beweist seine freiwillige Hinwendung zum Natürlichen, zum »Abseitigen.«

Die Steigerung der Dichotomie zwischen Geist und Natur gipfelt in Szene 31 und 32, in welchen Aschenbach ein Werk komponiert, das sich in der Novelle als sein Meisterwerk herausstellt. Es präsentiert den Höhepunkt der Handlung. Aschenbachs Ziel, sein »inneres Gleichgewicht« zu finden, ist erreicht: er hat die Balance gefunden zwischen Geist und Natur. Inspiriert durch die an eine griechische Götterstatue erinnernde Gestalt Tadzios am Meer – eine Art dionysische Natur in apollonischem Gewand – komponiert er sein Meisterwerk.61

61 Vgl. Kap. 11.1.4.2.

Doch der Wendepunkt, das tragische Moment des Films, folgt sogleich in Szene 33. Aschenbachs Glück wird ins Unglück umgekehrt, als er am nächsten Tag am Strand vergeblich versucht, Tadzio anzusprechen. Dieser kokettiert mit der Abhängigkeit des Künstlers und läuft davon. Aschenbach wird trotz seiner Hinwendung zur Sinnlichkeit ein Mann der Distanz bleiben. Die Beziehung zu Tadzio bleibt eine visuelle, als solche unerfüllt. Tadzio als Sinnbild der jugendlichen und sinnlichen Schönheit ist für Aschenbach lediglich ein Objekt seiner Phantasie, unantastbar und für ihn unerreichbar. Die Erkenntnis darüber bringt ihn an den Rand eines Zusammenbruchs.

Der Fall der Handlung (Szene 34 bis 55) manifestiert sich sogleich in der sechsten Rückblende: Aschenbachs Besuch in einem Bordell. Ausschlaggebend ist Beethovens Für Elise, das Tadzio dilettantisch am Flügel des Hotels spielt und dessen Ton ebenso laienhaft von der Prostituierten Esmeralda fortgeführt wird, die am Klavier sitzt, zweimal langsam ihren Kopf hervorstreckt und Aschenbach erblickt, der hilflos in der Tür steht. Es entsteht der Eindruck, als ob er sie schon vorher besucht hat. Diese Szene ist wiederum eine direkte Anspielung auf Leverkühn, der von dem unheimlichen Fremdenführer in ein Bordell geführt wird: »Ich stand und verbarg meine Affecten, sehe mir gegenüber ein offen Klavier. [. . . ] Neben mich


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