- 243 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Serien von mathematischen Kombinationsmöglichkeiten! Unberechenbar und unerschöpflich! Ein Paradies der Vieldeutigkeiten!« Die Musik muß in alle Richtungen gehen können. Alfrieds Worte zum System der Zweideutigkeit führen jedoch nicht nur zu den kompositorischen Prinzipien der Zwölftonmusik, sondern handeln ganz allgemein von dem Versuch einer Kompositionstechnik, Avantgardistisches mit dem Traditionellen und Rückständigen, geistige Konstruktion mit der spontanen und unbewußten sinnlichen Wahrnehmung zu verbinden. Damit entspricht diese Szene dem in der Novelle verhandelten Grundkonflikt: das Problem der Vermittlung sinnlicher Erfahrung in der Kunst und die weiterführende Frage nach den Möglichkeiten alter und neuer Kunst.58
58 Renner 1987, S. 149/156.

Die insgesamt acht Rückblenden sind ein geschickter Kunstgriff des Regisseurs. Bereits während der ersten Diskussion zischen Aschenbach und Alfried aus dem off wird deutlich, daß die Rückblenden nicht assoziativ sind, sondern genetisch.59

59 Renner 1987, S. 148.
Sie zeigen die Entwicklung eines kunsttheoretischen Dilemmas und zeichnen die Entstehung jener ästhetischen Haltung nach, die Aschenbach zu Beginn des Films in eine schwierige psychische Disposition führen. In der vierten Rückblende (Szene 18) erschüttert Alfried nicht mehr nur Aschenbachs Wertevorstellungen, sondern bereits seine eigene Person. Die Steigerung dieser Rückblicke vollzieht sich parallel zu Aschenbachs eigenem Verfall in der Gegenwart. Als er im Aufzug eine negative Reaktion auf sein Verhalten erfahren hat, nämlich ein Gefühl gegenüber Tadzio zu zeigen und menschliche Schönheit zu bewundern, ist er sofort bereit, abzureisen. Damit entzieht er sich der Gefahr, sich in ein Gefühl zu verstricken. Die Schönheit des Jungen, die er gemäß seinen puritanischen Idealen als rein und makellos empfindet, hat gleichzeitig etwas Sinnliches, dem er sich nicht ausliefern will. Dabei wird er wiederum in der Rückblende von Alfried entlarvt: »Das ist nicht Scham, das ist Angst! Scham ist ein seelischer Schmerz, gegen den du immun bist, denn du bist immun gegen Gefühle! Das läßt sich mit deinen streng moralischen Grundsätzen nicht vereinbaren!« Das Liebesmotiv wird hier in paradoxer Art und Weise aufgegriffen, denn trotz aller Immunität gegen Gefühle wird Aschenbach in der fünften Rückblende in seinem familiären Umfeld als liebevoller Ehemann und Vater gezeigt. Die Wärme seiner Frau steht in direktem Kontrast zu dem Zynismus von Alfried, dessen Worte hier eine Antizipation der später bis ins Krankhafte gesteigerten Liebe zu Tadzio sind: »An seinen eigenen Sinnen schuldig zu werden für eine Haltung, die rettungslos verdorben und krankhaft ist. Welch eine Freude für einen Künstler! [. . . ] Es gibt nichts, was langweiliger und reizloser wäre als das Gesunde!« Aschenbachs vergeblichem Streben nach Hehrem, Edlem und ethisch Hochstehendem setzt Alfried die Mittelmäßigkeit gegenüber. Seine Herausforderung gegenüber Aschenbach hat bereits den Unterton des bösartig lockenden Dämons, der Leverkühn im Doktor Faustus ebenso provoziert: »Ich glaube gar, der Teufel gilt für den Mann zersetzender Kritik? [...] Und ich wills meinen, daß schöpferische, Genie spendende Krankheit, Krankheit, die hoch zu Roß die Hindernisse nimmt, in kühnem Rausch von Fels zu Felsen sprengt, tausendmal dem Leben lieber ist als die zu Fuße latschende Gesundheit. Nie hab ich etwas Dümmeres gehört, als daß von Kranken nur

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