- 242 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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hat, wird dieser weitergeführt, zunächst wiederum durch eine dritte Rückblende: Aschenbach und Alfried führen eine heftige Diskussion über den Dualismus der Kunst. Sie ist zugleich Voraussetzung jener kunsttheoretischen Diskussion während des ersten Dinners. Die vorliegende Reminiszens gewinnt eine über sie hinausweisende Bedeutung aus dem Zusammenhang, in den sie eingefügt ist. Sie zeigt die erste Irritation Aschenbachs, der in der Vergangenheit stets eine feste Meinung vertreten hat: »Die Schöpfung von Schönheit und Vollkommenheit ist ein geistiger Akt.« Die Erschütterung seiner puritanischen Ansichten, die Aschenbach in der Gegenwart erfährt, wird von Alfried in der Vergangenheit bestätigt: »Schönheit gehört ins Reich der Sinne!« Aschenbachs aufgeräumter Theorie, die Kunst sei das eindeutige Ergebnis der Beherrschung der Sinne eines mustergültigen Künstlers, durch die er »Weisheit, Wahrheit und menschliche Würde« erreicht – seine Musik wird davon geprägt –, setzt Alfried das Abseitige entgegen, als solches ein dämonisches Motiv Viscontis: »Weisheit?! Was hat das für einen Wert? Genie ist von Gott geschenkt, nein, von Gott verhängt. Ein sünd- und krankhafter Brand natürlicher Gaben. [...] Das Böse ist eine Notwendigkeit. Es ist das Brot des Genies.«

Alfried erschüttert Aschenbachs Doktrin. Dieser übergeht jedoch bewußt sein Wissen um die Brüchigkeit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Er lehnt sie ab, um erhobenen Hauptes darüber hinwegzugehen. Um diese Position zu rechtfertigen, kämpft er sowohl gegen die von Alfried verteidigte Dekadenz, das Kokettieren der Verfallserscheinungen mit der Epoche als auch gegen jene Kunst, die Kritik an der bestehenden Ordnung übt.55

55 Bogemski 1980, S. 46.
In diesem Dialog findet der Zuschauer Manns Dichotomie zwischen Geist und Natur, zwischen bürgerlicher Ehrenhaftigkeit und der Korruption in der Person des Künstlers.56
56 McKay 1982, S. 160.
Damit verbindet Visconti in den Rückblenden die Kunstanschauungen und die psychologische Disposition Aschenbachs mit dem zentralen Theorem der Kunst. Mit dem Hinweis auf das Böse, Abseitige und Korrupte im Künstler und seinem Werk wird Alfried zum Teufel des Doktor Faustus – dessen Urteil: »Der Künstler ist der Bruder des Verbrechers und des Verrückten. Meinst du, daß je ein irgend belustigendes Werk zustande gekommen, ohne daß sein Macher sich dabei auf das Dasein des Verbrechers und des Tollen verstehen lernte?«57
57 Mann 1995a, S. 318.

Aschenbachs Welt wird durch Alfried bedroht; das dämonische Motiv ist unverkennbar. Seine Theorie, die Kunst müsse die eindeutige Arbeit eines mustergültigen Künstlers sein, setzt Alfried die Zweideutigkeit entgegen: »Die Musik ist die Zweideutigkeit als System!« Leverkühns Auffassung von der Musik findet sich in diesem Zitat aus dem Doktor Faustus wieder. Auch seine mathematisch konstruierten Ideen spiegeln sich in Alfrieds Worten wider, als dieser nach zwei »Tristan-ähnlichen« Akkorden wahllos sein Hände wie in einem Glissando über die Tasten des Flügels gleiten läßt: »Du kannst ihn interpretieren wie du willst, denn vor dir liegen ganze


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