- 241 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Faustus, in der Leverkühn das Interesse über die menschliche Liebe stellt. Visconti könnte sich hieran orientiert haben: »Hältst du die Liebe für den stärksten Affekt?« fragte er. [Leverkühn]

»Weißt du einen stärkeren?« [Zeitblom]

»Ja, das Interesse.«

»Darunter verstehst du wohl eine Liebe, der man die animalische Wärme entzogen hat?«

»Einigen wir uns auf die Bestimmung! lachte er.«53

53 Mann 1995a, S. 97.

Obwohl Visconti jede Erotik ausschließt, ist es dennoch verwunderlich, wie oft er und sein Kostümbildner Piero Tosi den beinahe schon androgyn wirkenden Björn Andresen in immer neue körperbetonte Hüllen stecken wie enge Badeanzüge, Matrosenanzüge oder Pagenuniformen, um ihm scheinbar alle Schattierungen seines jugendlich-männlichen Eros abzugewinnen. Dies könnte jedoch auch ein Hinweis auf die Jugend sein, die Aschenbach vergeblich wiederzufinden versucht. Zum anderen antizipiert Visconti anhand seiner Bildführung eine Variante von der Zweideutigkeit der Kunst als System, die Alfried später anspricht. Bereits während des ersten Auftritts der polnischen Familie wandert die Kamera, die den suchenden Blick von Aschenbach nachstellt, der Reihe nach zuerst über die Mädchen der Familie bis sie auf Tadzio verharrt. Sie läßt durchaus die Assoziation zu, daß er Knabe und Mädchen zugleich ist. Damit weist Visconti auf die Auflösung der Geschlechterrollen, die sich bei Aschenbach und Tadzio lediglich in einer platonischen Liebe des »Augen-Blicks« erschöpft. In Manns Vorlage hingegen gibt es eine Vielzahl an direkten Hinweisen darauf, daß Aschenbachs Liebe zu Tadzio erotischen Charakters ist. Hier wird Tadzio stets als »Geliebter« bezeichnet. Die von Mann angedeutete Homosexualität Aschenbachs wird jedoch bereits durch die filmischen Rückblenden widerlegt, in denen er zum einen als liebender Familienvater dargestellt wird, zum anderen als Kunde der Prostituierten Esmeralda. Doch stellt der homoerotische Konflikt bei Manns Aschenbachs lediglich eine Variante der übergeordneten Versuchung des Geistes, nur einen Affekt Aschenbachs54

54 Renner 1987, S. 148.
dar, den Visconti hingegen mit seinen ihm eigenen filmischen Mitteln umsetzt. Während der Steigerung der Handlung manifestiert sich das Liebesmotiv zunächst nur in entfernter Bewunderung für den Jungen, vergleichbar mit der Bewunderung, die ein Künstler für ein Objekt am Anfang seiner Arbeit hat. Seine Beziehung zu dem polnischen Knaben ist die des Sehens, der »Augen-Lust«, die glücksversprechend ist. Der Künstler genießt sein Objekt aus der Ferne. Diese Konstellation spiegelt sich auch auf dem Höhepunkt der filmischen Handlung wider, als Aschenbach durch Tadzio, der in der Ferne ans Meer geht, zu seinem Meisterwerk inspiriert wird. Die Beziehung ist mit derjenigen zwischen Künstler und Objekt bzw. Kunst vergleichbar. Erst nach der Wende, in der Aschenbach sich dem Dionysischen hingibt, steigert sich seine Liebe zu einer unkontrollierten Leidenschaft (Fall der Handlung und Katastrophe).

Die Steigerung erstreckt sich von Szene 9 bis 30. Nachdem Visconti dem Zuschauer den durch die Rückblende aus dem off dargestellten Konflikt vorgestellt


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