- 240 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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hindurchrieselt, ohne daß der Mensch dessen gewahr wird, ist für Aschenbach ein Symbol seines eigenen Lebens, an dessen Ende ihm keine Zeit mehr bleibt. Wiederum eine direkte Anleihe aus einem Dialog im Doktor Faustus zwischen Leverkühn und dem Teufel über die »Stundglas-Jahre.«50
50 Mann 1995a, S. 315.

Das erregende Moment des Films ist sehr eindeutig, nämlich Tadzios Auftritt in Szene 7 und 8. Aschenbach bemerkt verwundert, daß der Junge von »vollkommener Schönheit« ist und beginnt sogleich, ihn zu fixieren. Hier tritt vollends Musik an die Stelle des Wortes. Lehárs Walzer »Lippen schweigen. . . « aus der Lustigen Witwe (1905) in der schleifend schnulzigen Intonation der Hotelmusiker setzt hier freilich einen ironischen Akzent. Die Erscheinung des Jungen stürzt Aschenbach in jenen Konflikt zwischen Geist und Sinnlichkeit, was sogleich eine entscheidende kunsttheoretische Passage in Form einer zweiten Rückblende auslöst, die als Dialog zwischen Aschenbach und seinen Schüler Alfried aus dem off während des Diners eingeblendet wird. Kampf und Gegenkampf nehmen hiermit für Aschenbach ihren Anfang:

Alfried:

»Schönheit! Du meinst deine subjektive Vorstellung von Schönheit, die im Geiste lebt.«

Aschenbach:

»Aber damit bestreitest du doch die Schaffenskraft des Künstlers aus dem Geiste!«

Alfried:

»Ja, Gustav, genau das bestreite ich!«

Als sollte Alfrieds Argument untermauert werden, erfolgt mit dem nächsten Schnitt sogleich Tadzios Großaufnahme. Als Alfried ihn ungläubig fragt: »Glaubst du wirklich an Schönheit als Ergebnis von Arbeit?!«, nickt Aschenbach in Gedanken vor sich hin. Wie um ihn erneut Lügen zu strafen, fängt die Kamera Tadzio erneut in einer Großaufnahme ein mit Alfrieds Worten: »So wird Schönheit geboren, nur so! Spontan! Ungeachtet deiner Anstrengungen und meiner. Sie existiert aus sich selbst, unabhängig von unserer Imagination als Künstler!« Ein Teil der ohnehin in der Vergangenheit bereits rissig gewordenen Selbstbestimmung- und verwirklichung Aschenbachs geht verloren, nachdem er Tadzio als vollkommen schön anerkannt hat, seine bisherige Position wird durch den Jungen erschüttert. Die Erkenntnis der Fragwürdigkeit seiner bisher festgefügten, kaum mehr zur Diskussion gestellten Wertvorstellungen läßt ihn zum Zweifler seiner selbst werden. Der Konflikt ist geschaffen und nimmt seinen Lauf.
Liebes- und Sehnsuchtsmotiv

Das Motiv der Liebe wird anhand der Figur Tadzios charakterisiert, damit zu gleich das der Sehnsucht und des Verlangens51

51 McKay 1982, S. 151.
. Hier ergibt sich sogleich ein Unterschied zu Mann, denn die Liebe von Viscontis Aschenbachs ist rein platonischer Art – »Love without Eroticism« wie es der Regisseur selber in einem Interview mit Guy Flately ausdrückte.52
52 McKay 1982, S. 141.
Diese Definition erinnert an eine Passage aus Manns Doktor

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