Kriegsmotiv
Das Kriegsmotiv40
wird bei der Ankunft des Schiffes im Hafen kurz angedeutet, als die Kamera die Soldaten
erfaßt, die am Hafen gedrillt werden. Obwohl diese Szene der einzige Hinweis auf das
Kriegsmotiv bleibt, ist es dennoch von großer Bedeutung, da die Scharfschützen
stellvertretend für den herannahenden Ersten Weltkrieg gelten müssen, der die heile
Welt des Großbürgertums (Szene 3: Ankunft im Des Bains) zerstören wird. Eine Figur
des Films, die jene Überheblichkeit und Unnahbarkeit des Großbürgertums neben
Aschenbach hinreichend repräsentiert, ist Tadzios Mutter. Die Kritikerin Joan Mellon
schreibt hierzu: »The loveliest image in the film may well be not the boy Tadzio, but his
elegant, superior mother, [. . . ] the glory of her class, a living example of privilege,
but inexpressibly beautiful with her poise, control, pearls, mauve satin, and
lace.«41
41 Joan Mellon: »Death in Venice.« Film Quarterly 25 (1971) 47.
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Dämonisches Motiv/Motiv der Falschheit & der Begegnung
In Zusammenhang mit dem Kriegsmotiv ist auch das dämonische
Motiv42
zu erwähnen, das sich in Szene 3 zunächst in der Ironie ausdrückt, mit der Visconti die
biedere bürgerliche Gesellschaft im Des Bains porträtiert; eine Gesellschaft, die sich aus
verschiedenen Nationen zusammensetzt, welche sich in Kürze im Krieg gegenseitig
bekämpfen werden. Das dämonische Motiv stammt zweifelsohne aus Viscontis
Quelle Doktor Faustus. Im Film wird es vor allem durch Aschenbachs Schüler
Alfried und den unnatürlich geschminkten Fremden personifiziert, der dem
dämonischen Fremdenführer aus Manns Doktor Faustus gleicht. Noch auf dem
Schiff tritt er Aschenbach mit einem höhnischen Gelächter entgegen mit den
Worten: »Man empfiehlt sich geneigter Erinnerung. [. . . ] Unsere Komplimente des
Liebchen«, mit dem die nahende Begegnung mit Tadzio angedeutet wird. Der
geschminkte Greis trägt zugleich das Motiv der Falschheit und des Unechten,
welches die Dramaturgie jedoch erst entlarvt, als Aschenbach sich selbst in einen
»falschen Jüngling« mit roter Krawatte, Hutband und Edelsteinen an den Fingern
verwandelt.43
43 Faulstich 1977, S. 18.
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Bereits in der Exposition erweist sich Aschenbach als ein Mann der absoluten Distanz zu
seiner Außenwelt. Zwar wird er von dem Hoteldirektor mit Respekt behandelt, doch
dessen so übertriebene, aber gleichzeitig herablassende Ergebenheit zeigt, daß
Aschenbach von seiner Umwelt weder gemocht wird noch vertraut man ihm. Die einzigen
Personen, mit denen er spricht, gehören dem Personal des Hotels an. Aber diese Form
der Beziehung bedeutet nicht, daß Aschenbach als der Überlegene zu gelten
hat – im Gegenteil: die Außenwelt kontrolliert ihn und konfrontiert ihn mit
ihrer Falschheit. Der Gondoliere fährt Aschenbach eigenmächtig an den Lido,
der Hoteldirektor versucht ihm vorzutäuschen, daß es keine Seuche in Venedig
gibt.44
44 Nowell-Smith 1973, S. 197.
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Diese Manipulation Aschenbachs durch seine Außenwelt verhindert jede
Integration. Seine Einsamkeit wird weniger durch Leere als durch die Fülle
der Ereignisse illustriert, die um ihn herum geschehen. Auch das Motiv der
Begegnung45
45 McKay 1982, S. 147/150.
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wird sichtbar
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