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Kriegsmotiv

Das Kriegsmotiv40

40 McKay 1982, S. 157.
wird bei der Ankunft des Schiffes im Hafen kurz angedeutet, als die Kamera die Soldaten erfaßt, die am Hafen gedrillt werden. Obwohl diese Szene der einzige Hinweis auf das Kriegsmotiv bleibt, ist es dennoch von großer Bedeutung, da die Scharfschützen stellvertretend für den herannahenden Ersten Weltkrieg gelten müssen, der die heile Welt des Großbürgertums (Szene 3: Ankunft im Des Bains) zerstören wird. Eine Figur des Films, die jene Überheblichkeit und Unnahbarkeit des Großbürgertums neben Aschenbach hinreichend repräsentiert, ist Tadzios Mutter. Die Kritikerin Joan Mellon schreibt hierzu: »The loveliest image in the film may well be not the boy Tadzio, but his elegant, superior mother, [. . . ] the glory of her class, a living example of privilege, but inexpressibly beautiful with her poise, control, pearls, mauve satin, and lace.«41
41 Joan Mellon: »Death in Venice.« Film Quarterly 25 (1971) 47.
Dämonisches Motiv/Motiv der Falschheit & der Begegnung

In Zusammenhang mit dem Kriegsmotiv ist auch das dämonische Motiv42

42 McKay 1982, S. 158.
zu erwähnen, das sich in Szene 3 zunächst in der Ironie ausdrückt, mit der Visconti die biedere bürgerliche Gesellschaft im Des Bains porträtiert; eine Gesellschaft, die sich aus verschiedenen Nationen zusammensetzt, welche sich in Kürze im Krieg gegenseitig bekämpfen werden. Das dämonische Motiv stammt zweifelsohne aus Viscontis Quelle Doktor Faustus. Im Film wird es vor allem durch Aschenbachs Schüler Alfried und den unnatürlich geschminkten Fremden personifiziert, der dem dämonischen Fremdenführer aus Manns Doktor Faustus gleicht. Noch auf dem Schiff tritt er Aschenbach mit einem höhnischen Gelächter entgegen mit den Worten: »Man empfiehlt sich geneigter Erinnerung. [. . . ] Unsere Komplimente des Liebchen«, mit dem die nahende Begegnung mit Tadzio angedeutet wird. Der geschminkte Greis trägt zugleich das Motiv der Falschheit und des Unechten, welches die Dramaturgie jedoch erst entlarvt, als Aschenbach sich selbst in einen »falschen Jüngling« mit roter Krawatte, Hutband und Edelsteinen an den Fingern verwandelt.43
43 Faulstich 1977, S. 18.
Bereits in der Exposition erweist sich Aschenbach als ein Mann der absoluten Distanz zu seiner Außenwelt. Zwar wird er von dem Hoteldirektor mit Respekt behandelt, doch dessen so übertriebene, aber gleichzeitig herablassende Ergebenheit zeigt, daß Aschenbach von seiner Umwelt weder gemocht wird noch vertraut man ihm. Die einzigen Personen, mit denen er spricht, gehören dem Personal des Hotels an. Aber diese Form der Beziehung bedeutet nicht, daß Aschenbach als der Überlegene zu gelten hat – im Gegenteil: die Außenwelt kontrolliert ihn und konfrontiert ihn mit ihrer Falschheit. Der Gondoliere fährt Aschenbach eigenmächtig an den Lido, der Hoteldirektor versucht ihm vorzutäuschen, daß es keine Seuche in Venedig gibt.44
44 Nowell-Smith 1973, S. 197.
Diese Manipulation Aschenbachs durch seine Außenwelt verhindert jede Integration. Seine Einsamkeit wird weniger durch Leere als durch die Fülle der Ereignisse illustriert, die um ihn herum geschehen. Auch das Motiv der Begegnung45
45 McKay 1982, S. 147/150.
wird sichtbar

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