- 237 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Eine der für das Thema wichtigsten Einflüsse ist natürlich auch die Biographie Gustav Mahlers, deren Anleihen im Film nicht zu übersehen sind.35
35 Vgl. Kap. 11.1.3 bis 11.1.4.2.

Reflektiert man diese Quellen, die Visconti benutzt hat, so kann man von einem synthetischen Film im umfassendsten Sinne des Wortes sprechen. Insofern bezeichnet Bogemski ihn nicht nur als einen italienischen, sondern als europäischen Künstler, dem der »Reichtum der Weltkultur zu Gebote« stand.36

36 Georgi Bogemski: »Nachkomme eines alten Herrschergeschlechts. Erinnerungen an Luchino Visconti (3).« Film und Fernsehen 1 (1980) 48.

Der dramaturgische Aufbau in Viscontis Film entspricht der Gattung der Tragödie nach Kuchenbuch bzw. Franz und Freytag. Vor dem Hintergrund des antiken Vorbildes ist das Tragische Hauptgegenstand der Tragödie. Es findet seinen Ausdruck im Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft; ein Konflikt, der nur in der tragischen Vernichtung des Individuums aufhebbar wird. Diese Konzeption orientiert sich vor allem an Sophokles. Für das moderne Bewußtsein scheint die Tragödie jedoch nicht mehr möglich, da die in ihr vorausgesetzten Werte »nicht mehr als etwas Dauerndes, von den Menschen nicht mehr Abänderbares, für alle Menschen Bestehendes betrachtet« werden können (Brecht). An ihre Stelle treten die Tragikomödie, die Groteske und das absurde Theater.37

37 Jürgen Kühnel: »Tragödie.« In: Günther und Irmgard Schweikle (Hrsg.): Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart 1990, S. 471.
Dennoch bietet der Film Voraussetzungen für die Beschaffenheit des tragischen Konflikts der antiken Tragödie. Im Verlaufe sowohl der Novelle als auch des Films kristallisieren sich mehrere dramaturgische Leitmotive heraus, auf die Visconti immer wieder zurückgreift. Diese spielen auch eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Filmmusik:
Nirwana-Motiv

In der Exposition (Szenen 1 bis 6)38

38 Vgl. Anhang C.3.
schafft Visconti die Voraussetzungen des dramatischen Konflikts. Gleich mit der ersten Szene erzeugt er eine Grundstimmung, die während des gesamten Films präsent ist. Auf dem Deck sitzt ein Mann, der nicht nur von der Reise erschöpft ist, sondern sichtlich auch vom Leben. In der Exposition führt Visconti einige der wichtigsten Motive der gesamten Dramaturgie ein, in der ersten Szene das sogenannte Nirwana-Motiv.39
39 McKay 1982, S. 157.
Dieses ist das stärkste Motiv des Films, bei dem die Kamera in überdurchschnittlich vielen Szenen das Meer oder Venedigs Canale Grande in langen und weiten Einstellungen fotographiert. Die Nirwana-Motivik wird ebenso durch die Farbmetaphorik im Film durchgehend angedeutet, da die Farbe blau sowohl in der Kleidung der Protagonisten als auch in der Gestaltung der Räume dominant ist. Das Nirwana – im buddhistischen Sinne die vollkommene Ruhe im Nicht-Bedingtsein und Nicht-Begehren – reflektiert Visconti in der Exposition mit der Weite, mit der er das Meer aufnimmt als Widerschein des »Ewigen« und der Tiefe.

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