während dieser Dualismus nur eine weitere Ausführung ist wie in Manns Der Tod in
Venedig, spielt in Tonio Kröger besonders das Verhältnis zwischen Mensch und Künstler eine
Rolle bzw. die allgemeine Antinomie zwischen Leben und Kunst. So präsentiert sich Tonio
Kröger ähnlich wie der Aschenbach der literarischen Vorlage als ein typisch »Mannscher«
Leistungsethiker, dessen Künstlerschaft sich »in dem Maße, wie seine Gesundheit geschwächt
ward, verschärfte.« Doch während Manns Aschenbach ein in München vielfach anerkannter
Künstler ist, stellt Visconti seinen Aschenbach eher als einen Außenseiter der Gesellschaft dar,
der danach strebt, Mensch und Künstler in sich zu vereinen. Hierin liegt die Parallele zu
Tonio Kröger. In seiner Jugend hebt seine Sensibilität ihn bereits ab von anderen
Charakteren der Novelle. Um als Erwachsener die absolute Objektivität des Künstlers als ein
Beobachter des Lebens zu erreichen, übt er sich in Distanz und Loslösung von seiner
Umwelt.30
30 Michael Chanan: »Death in Venice.« Art International 15 (1971) 32.
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Mit der Distanz kommt seine Kunstfertigkeit. Für ihn liegt das Künstlertum jedoch nicht nur
in seiner sozialen Vereinsamung, sondern auch in der Loslösung von seinen eigenen
Gefühlen. Viscontis Aschenbach strebt ebenso nach der Verschmelzung von Mensch und
Künstler. Nicht nur, daß er, wie ihm Alfried in einer Rückblende vorwirft, immun gegen
Gefühle ist, in seiner Vision der Einheit von Künstler und Mensch, die er in einem
Werk zu manifestieren versucht, erlebt er nach der Aufführung des Werkes die totale
Verachtung seines Publikums, das ihn auspfeift und ihn noch mehr in die Vereinsamung
drängt.
Richard Wagner(1813–1883)
Wagners Einfluß ist sowohl in Manns Vorlage
unverkennbar31
31 Vgl. hierzu Claudius Reinke: Musik als Schicksal. Zur Rezepzions- und Interpretationsproblematik
der Wagnerbetrachtung Thomas Manns. [Unveröffentlichtes Manuskript im Besitz des Autoren]
Diss., Osnabrück 1999, S. 167–173.
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als
auch in Viscontis Film angedeutet. McKay zitiert in diesem Zusammenhang McClains »Wagnerian Overtones in
Der Tod in Venedig«32
32 William H. McClain: »Wagnerian Overtones in Der Tod in Venedig.« Modern Language Notes
79 (Dec 1964) 481–495.
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,
worin dieser die Frage stellt, ob der Künstler in der Novelle nach dem Muster Richard Wagners
charakterisiert ist. Hierzu listet er mehrere Ereignisse aus Wagners Biographie auf, die ihn zu
dieser Spekulation führen. So ergeben sich Parallelen in der Hinsicht, daß Wagner im Sommer
des Jahres 1858 selbst nach Venedig reiste. Während seines Aufenthaltes komponierte er den
zweiten Akt von Tristan und Isolde. Eine weitere Parallele ist Wagners eigener Tod in
Venedig im Jahre 1883, der – so McClain – aus der Perspektive deutscher Kunst
und Kultur wohl der berühmteste Tod in Venedig im 19. Jahrhundert gewesen sein
dürfte.33
33 Vgl. auch Werner Vordtriede: »Richard Wagners Tod in Vendig.« Euphorion 52 (1958)
378–396.
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Wagner thematisierte in seinen Werken stets Individuen, die für die Liebe sterben. Das zentrale
Thema im Tristan und im Ring ist die Erlösung durch Liebe, ein Motiv, das sowohl die
Novelle als auch Viscontis Film wie ein roter Faden durchzieht. In einem Interview
betonte Visconti, daß die Liebe als wichtigstes Gefühl des Menschen im Film durch
die Figur des Tadzio repräsentiert wird. Eine Folgerung, daß Viscontis Aschenbach
ähnlich wie die Wagnerschen Helden nach der Erlösung und Rettung durch Liebe
sucht.34
Darüber hinaus wird sowohl in der Novelle als auch im Film in der Person des Tadzio ein
sinnliches Schönheitsideal im Sinne der Hermes-Figur repräsentiert, dessen Standard durch die
hermetische Todessymbolik Wagnerscher Figuren (beispielsweise Brünnhilde, II. Akt der
Walküre) vorgegeben wurde.
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