- 235 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Venedig bringt, sowohl die Prostituierte, von der Leverkühn sich ansteckt, trägt diesen Namen, als auch die Prostituierte im Film, die Aschenbach besucht. Genau wie Leverkühn verläßt Aschenbach das Bordell fluchtartig.

Eine weitere Parallele besteht zwischen Viscontis Alfried und Manns Teufel in Doktor Faustus. Die Figur des Alfried, der in der literarischen Vorlage nicht vorkommt und eine Erfindung Viscontis ist, ermöglicht im Film Gespräche und Diskussionen über Musik, welche Aschenbach in der Novelle lediglich in Form von inneren Monologen abhält. Jene Diskussionen behandeln auch eines der zentralen Themen des Films, nämlich die Natur der Schönheit sowie die Tonalität von Musik. Damit lehnt sich die Figur des Alfried unmittelbar an dem Teufel in Manns Doktor Faustus an.

Die gesellschaftlichen und politischen Rollenbilder sind eine weitere Verbindung zwischen Doktor Faustus und Viscontis Tod in Venedig. Deutschland, für das Leverkühn als Faust stellvertretend gilt, verkauft seine Seele an den Teufel in Gestalt der Nationalsozialisten mit der Gegenleistung der Macht, oder wie Leverkühn es sich für sich persönlich ausdrückt: »weil ich in dieser Welt einen Ruhm hatte erlangen wollen.«27

27 Mann 1995a, S. 655.
Das Großbürgertum, als dessen Vertreter Aschenbach in Film und Roman gilt, wird durch die Folgen des Ersten Weltkrieges entmachtet, was letztlich in der Allianz mit den Nationalsozialisten im Dritten Reich mündet mit der Gegenleistung einer Machtverleihung gegen den aufkeimenden Kommunismus. Dieses Thema war für Visconti auch von großem persönlichem Interesse und welches er – selber in den dreißiger Jahren aktiver Kommunist – in seinem Film Die Verdammten hinreichend thematisierte.

Der Fremde, der in Manns Roman als auch in Viscontis Film in verschiedenen Gestalten auftritt, ist eine weitere Anleihe Viscontis aus Manns Doktor Faustus, denn jene Gestalten sind ebenso wie Alfried direkt an der Figur des Teufels orientiert. Im Film tritt der Teufel zum ersten Mal in Gestalt des geschminkten Greises auf dem Schiff auf sowohl mit fast demselben Aussehen als auch einem vergleichbaren Wortlaut, den der mysteriöse Fremdenführer im Roman benutzt, der Leverkühn in ein Bordell führt. Mann schreibt hier: »Stellt sich mir auch als Fremdenführer vor und wies sich als solcher aus durch ein Messingschild und durch zwei, drei englische und französische Brocken, teuflisch gesprochen.«28

28 Mann 1995a, S. 190.
Im Film tritt der vergleichbare Fremde Aschenbach mit einem verhöhnenden Gelächter entgegen: »Wir wünschen den glücklichsten Aufenthalt. Man empfiehlt sich geneigter Erinnerung. Au revoir, excusez und bon jour! Euer Exzellenz! [...] Unsere Komplimente dem Liebchen [...].«

Thomas Mann: Tonio Kröger (1903)

Diese Novelle ist die dritte Quelle Thomas Manns, an der sich Visconti in seinem Film orientiert. Zwar ist der Hinweis auf diese Erzählung Manns im Film sehr subtil, kommt jedoch zur Bedeutung in Beschreibung der Künstlerpersönlichkeit Aschenbachs und seiner Entwicklung. Der Zwiespalt zwischen dem apollonischen und dem dionysischen Ideal des Künstlertums, Disziplin und Natur, im übergeordneten Sinne Bürgerlichkeit und das »Abseitige« sind auch für Tonio Kröger jene Stolpersteine, an denen er letztlich scheitert. In Tonio Kröger vereinen sich eben diese Gegensätze durch seine Abstammung, die durch den Spagat zwischen südlicher »bellezza« und nordisch biederer Bürgerlichkeit geprägt ist: »Und schnell ward sein Name, [...] dieser aus Nord und Süd zusammengesetzte Klang, dieser exotisch angehauchte Bürgersname zu einer Formel, die Vortreffliches bezeichnete; denn der schmerzlichen Gründlichkeit seiner Erfahrungen gesellte sich ein seltener, zäh ausharrender und ehrsüchtiger Fleiß, der im Kampf mit der wählerischen Reizbarkeit seines Geschmacks unter heftigen Qualen ungewöhnliche Werke entstehen ließ.«29

29 Thomas Mann: Tonio Kröger. Frankfurt am Main 1990, S. 26.
Doch

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