Begeisterung wunderbare Werke, bis der Teufel ihn holt. Doch handelt es sich nicht
nur um eine fiktive Biographie über das Leben eines Musikers. Es geht ähnlich wie in Der Tod
in Venedig auch um die Darstellung der gegenwärtigen Epoche als einer Art Krisen- und
Endzeit der Kunst wie auch der geistigen und politisch-gesellschaftlichen Entwicklung, mit
dem Unterschied zu Der Tod in Venedig, daß es sich hier um den Zweiten Weltkrieg
handelt, der die Gesellschaft zerstört. Thomas Mann selbst hat darauf hingewiesen, daß
die Musik in dem Roman eine Art Paradigma dafür sei, die Situation der Kunst,
überhaupt der Kultur und die des Menschen in einer kritischen Epoche darzustellen.
Darüber hinaus spielt auch das Thema der Persönlichkeitsentwicklung Leverkühns eine
zentrale Rolle, der von einem überentwickelten Geist in eine »archaische Primitivität«
zurücksinkt.21
21 Hans H. Henschen/Winfried Hellmann: »Doktor Faustus.« In: Manfred Kluge/Rudolf Radler
(Hrsg.): Hauptwerke der deutschen Literatur. Darstellungen und Interpretationen. München
1974, S. 547.
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Was Leverkühn bereits in jungen Jahren zur Musik hinzieht, ist das mathematisch Strenge
und doch geheimnisvoll Vieldeutige. Die Musik ist für ihn die »Zweideutigkeit als
System«, ihr sinnliches Element wird durch Ordnungsbeziehungen, Berechnung und
Abstraktion aufgehoben. Nach einem abgebrochenen Theologiestudium wendet Leverkühn
sich endgültig als Komponist der Musik zu. Er ist jedoch von Zweifeln erfüllt, da
seinem Künstlertum jede robuste Naivität fehlt, jene abgeschmackten und verbrauchten
musikalischen Mittel und durch die Musikgeschichte überlieferten Techniken auch in seinen
Werken umzusetzen. Die vorgegebenen Mittel reichen seiner Meinung nach nur noch zur
Parodie:
»Seit vierhundert Jahren hat alle große Musik ihr Genügen darin gefunden,
diese Einheit als bruchlos geleistete vorzutäuschen, – sie hat sich darin gefallen,
die konventionelle Allgemeingesetzlichkeit, der sie untersteht, mit ihren eigensten
Anliegen zu verwechseln. Freund, es geht nicht mehr. [...] Durch die unermüdliche
Aussöhnung ihrer spezifischen Anliegen mit der Herrschaft der Konventionen
hat sie an dem höheren Schwindel gleichwohl nach Kräften teilgenommen.«22
Adrian Leverkühns Situation ist repräsentativ für die im Roman auch theoretisch dargelegte
Krise der Musik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die technischen und formalen Schwierigkeiten,
mit denen er sich als Komponist auseinandersetzen muß, entsprechen denen, die von den
Musikern dieser Zeit zu lösen waren. Mann spielt hier besonders auf Schönberg an. In
einem Nachwort schreibt er: »Es scheint überflüssig, den Leser zu verständigen, daß
die im XXII. Kapitel dargestellte Kompositionsart, Zwölfton- oder Reihentechnik
genannt, in Wahrheit das geistige Eigentum eines zeitgenössischen Komponisten, Arnold
Schoenbergs, ist und von mir in bestimmtem ideellen Zusammenhang auf eine frei
erfundene Musikerpersönlichkeit, den tragischen Helden meines Romans, übertragen
wurde.«23
23 Thomas Mann, zit. n. Mann 1995a, S. 672.
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Mit dem ideellen Zusammenhang meint Mann die dämonische Bedeutung,
die die Zwölftontechnik im Zusammenhang des Romans erhält. Leverkühn
durchschaut, daß sich das historische musikalische Material »gegen das geschlossene
Werk«24
gekehrt hat. Zu stolz, lediglich mit den leblosen Formen in seinen Kompositionen
zu spielen, entschließt er sich zu einem Pakt mit dem Teufel. In Leipzig, wo
er seine Studien fortsetzen will, führt ihn ein Fremdenführer anstatt in einen
Gasthof in ein Bordell: »›Ihr ganz ergebener Diener‹, hieß es zu Halla [...] so ein
Kerl, einen Strick um den Leib, mit roter Mütze und Messingschild, [...] teuflisch
redend.«25
Eines der Mädchen (Esmeralda) berührt mit dem Arm seine Wange. Leverkühn flieht vor ihr,
kehrt aber nach kurzer Zeit wie unter Zwang
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