- 232 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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verpflichtet, hatte er niemals den Müßiggang, niemals die Fahrlässigkeit der Jugend gekannt.«16
16 Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Frankfurt am Main 1995b, S. 20–21.
So findet er sich im Alter von fünfzig Jahren in einem angeschlagenen gesundheitlichen Zustand wieder: »Aber sein Lieblingswort war ›Durchhalten‹, – er sah in seinem Friedrich-Roman nichts anderes als die Apotheose dieses Befehlswortes, das ihm als der Inbegriff leitend-tätiger Jugend erschien. Auch wünschte er sich sehnlichst, alt zu werden, denn er hatte von jeher dafür gehalten, daß wahrhaft groß, umfassend, ja wahrhaft ehrenwert nur das Künstlertum zu nennen sei, dem es beschieden war, auf allen Stufen des Menschlichen charakteristisch fruchtbar zu sein.«17
17 Mann 1995b, S. 21–22.

Manns Konzept vom Geist, der ein reflektierender Gedanke ist, und Natur als unreflektierende dionysische Energie, ist ein omnipräsentes Motiv in seinen Werken. Nach Manns Auffassung müssen jene zwei Kräfte, die sich im Künstler vereinen, in ein Gleichgewicht gebracht werden. Überwiegt eine der Kräfte, so bedeutet das den Tod. Dies ist das Hauptthema der Novelle: am Anfang ist Aschenbach dominiert durch seinen Geist, am Ende wird er von der Natur beherrscht, was unweigerlich zu seinem Tod führt. In der Novelle wird Tadzio fast ausschließlich aus dem Blickwinkel Aschenbachs beschrieben. Er ist ein Muster an Schönheit, dessen Profil Aschenbach »an griechische Bildwerke aus edelster Zeit«18

18 Mann 1995b, S. 50.
erinnert. An zahlreichen Stellen der Novelle wird Tadzio als junger Gott beschrieben, der sterben wird, wenn er die volle Reife erreicht hat. Dieser Gedanke erfüllt Aschenbach mit einer gewissen Freude. Tadzio gerät für Aschenbach zur Personifizierung des absoluten Schönheitsideals. Er ist sich der Aufmerksamkeit des Schriftstellers vollends bewußt. Was die äußere Handlung und die Struktur der Novelle betrifft, so stimmt sie bis auf einige Detail, besonders die Rückblenden im Film betreffend, mit dem Film überein. Viscontis Aschenbach ist jedoch kein Schriftsteller, sondern ein Komponist. Damit unternimmt Visconti eine einschneidende Veränderung der literarischen Vorlage, welche ebenso Auswirkungen auf den Stellenwert und die Bedeutung der Musik im Film hat. Dieser wird dadurch auch zu einem Film über Musik. Die literarische Vorlage Manns wird an diesem Punkt lediglich zur »Quelle der Inspiration«, die filmische Umsetzung gehorcht jedoch eigenen Gesetzen.19
19 Alfons Arns: »Morte a Venezia.« In: Michael Töteberg (Hrsg.): Metzler Film Lexikon. Stuttgart 1995, S. 388.
Die Tatsache, daß die Musik bei Visconti zu einem wichtigen dramaturgischen Bestandteil wird, deutet auf eine weitere Quelle, die der Regisseur benutzte, nämlich Thomas Manns Doktor Faustus.

Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde (1947)

Adrian Leverkühn, Komponist und Protagonist des Romans, der seine Seele an den Teufel verkauft, hat Ähnlichkeit mit Viscontis Aschenbach. Thomas Mann erzählt in dem biographisch angelegten Roman zwischen 1884 bis 1945 aus der Sicht des Dr. phil. Serenus Zeitblom die Lebensgeschichte des Komponisten Adrian Leverkühn, der »ein außerordentlich stolzer, kühler und kluger Geist, zu klug eigentlich für die Kunst, der aber dennoch vom Drang nach dem Kreativen erfüllt ist, und dazu Enthemmungen braucht, die ihm in dem ideellen Rahmen des Buches nur der Böse verschaffen kann.«20

20 Thomas Mann in einem Brief an Albert Oppenheimer vom 12. Februar 1949, zit. n. Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. Frankfurt am Main 1995a, S. 674.
Aus diesem Grunde flieht er in einen Pakt mit dem Teufel. Unter seiner Anleitung schafft er in entzückter

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