Was die äußere Handlung betrifft, so hält sich Visconti sehr genau an Manns Vorlage, doch
im Detail ergeben sich zahlreiche Abweichungen, darunter besonders die Rückblenden mit
Alfried, der eine Erfindung Viscontis ist. Viele Kritiker erachten diese Rückblenden, in denen
Aschenbach und Alfried vehement über Kunst und Leben diskutieren, als verwirrend und
oberflächlich.14
Doch durch die Dramaturgie des Films wird deutlich, daß ausschließlich die
Rückblenden, die im Gegensatz zu allen anderen Szenen des Films sehr wortreich sind,
durch ihre naturalistische und mythologische Motivik, die von den platonischen Dialogen
der literarischen Vorlage bis hin zu einer an Adorno orientierten Philosophie der
modernen Kunst und der Musik reicht, den Grundstein für die gesamte Thematik des
Film legen, nämlich Aschenbachs Konflikt zwischen Geist und triebhafter Sinnlichkeit
und seine Unaufrichtigkeit gegenüber seinen eigenen »hohen Prinzipien«. Alfried, der
zynische Diskussionspartner Aschenbachs, könnte hier als das »zweite Ich« des Helden
gelten. Ihre Kontroversen über Wesen und Aufgabe der Kunst, über Tradition, Verstand
und Gefühl als Mittel zur Erkenntnis der Wahrheit sowie über Eros und Geist,
Schönheit und Sittlichkeit und nicht zuletzt über das Dämonische und das
Göttliche in der Natur des Genies verweisen nachdrücklich sowohl auf Der
Tod in Venedig als auch auf Manns Doktor Faustus. Unverständlicherweise
leugnet Faulstich in diesem Zusammenhang jede mythologische Motivik im Film.
Doch gerade in den Rückblenden wird der Gegensatz zwischen apollonischem
und dionysischem Schönheitsideal in Alfrieds zynischen Äußerungen über das
Göttliche und das Böse deutlich ausgesprochen. Zum anderen erinnern die
ebenmäßigen, fast weiblichen Gesichtszüge des Schauspielers Björn Andresen,
der die Rolle des Tadzio spielt, an jene griechische Götterstatue, die Mann
beschreibt.
Für die Reflexion der Thematik greift Visconti nicht nur auf Manns gleichnamige Vorlage zurück, sondern auch auf drei weitere literarische und musikalische Quellen, die vorab zu erläutern sind: Thomas Mann: Der Tod in Venedig (1912) Die Novelle ist die Hauptquelle des Films. Mann verfaßte sie nach einem Aufenthalt in Venedig ein Jahr zuvor. Die Verfilmung eines literarischen Werkes ist nicht immer problemlos, denn der Film besitzt eine andere Sprache, Inhalte mitzuteilen. So erlauben sich Regisseure gewisse Freiheiten, um eine Aussage der literarischen Vorlage mit den ihnen eigenen filmischen Mitteln zu reflektieren und um neue Dimensionen zu bereichern. In dieser Hinsicht wird Visconti von Kritikern gerne als »filmischer Vollstrecker fremder Phantasie«15 degradiert. Doch ist dieses Urteil nur allzu voreilig und oberflächlich, da sein Film nicht nur eine getreue Verfilmung des literarischen Werkes, sondern darüber hinaus etwas Neues darstellt, das auch eigene Fragen und Interpretationsansätze aufwirft, im Grunde der Sinn einer Literaturverfilmung.Das Hauptthema der Novelle erläutert die Psychologie des künstlerischen Schaffens, den Mann mit dem dionysischen und den apollonischen Konflikt innerhalb des Künstlers bezeichnet. Manns Aschenbach ist ein Schriftsteller, dessen »ganzes Wesen auf Ruhm gestellt war. [...] Schon als Jüngling von allen Seiten auf die Leistung – und zwar die außerordentliche – |