- 230 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (229)Nächste Seite (231) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

mit dem apollonischen Prinzip vereinigt, dem »Bildungs-Griechentum« als Ideal von Form und Kontrolle, gesellschaftlich von Zucht und Ordnung.12
12 Thomas J. Reed: »Mann and his novella: Death in Venice.« In: Donald Mitchell (Hrsg.): Benjamin Britten. Death in Venice. Cambridge 1987, S. 164.
Gesellschaftspolitik

Viscontis Film ist zugleich eine Spektralanalyse der Belle Époque vor dem Ersten Weltkrieg, die mit dem »fin de siècle« in ihre dekadente Phase geriet. Der Untergang des großbürgerlichen Zeitalters war vorgezeichnet. Im Film bricht der machtgeschützte Spätwilhelminismus auf und vergeht im Treibhausklima der mediterranen Welt.

Dekadenz

Sie geht stets einher mit der Suche nach vollkommener Schönheit. Die Verbindung von Schönheit mit allgemeiner Dekadenz als zentrale Themen des Ästhetizismus ist charakteristisch für Viscontis Filmkunst. Der Aspekt der Schönheit macht den Film auch zu einem Werk der Betrachtung: Venedig, die Eleganz des Des Bains stehen jedoch der Dekadenz gegenüber, die allgegenwärtig ist. Sie kennzeichnet nicht nur den Verfall der von der Cholera verseuchten Stadt Venedig, sondern auch die kränkelnde Gesellschaft.

Im Film werden die Themen durch Aschenbachs Begegnungen mit Tadzio, die den Kern des Films bilden, aktiviert und vermischen sich zu einer »Geschichte von der Wollust des Untergangs«, wie Thomas Mann seine eigene Novelle bezeichnete. Nach dem bedeutendsten Vertreter des kritischen Realismus in der bürgerlichen Kultur des 20. Jahrhunderts fällt hier nun der italienische Regisseur – gemäß der realistischen Tradition des italienischen Films – das Urteil über den bürgerlichen Künstler Aschenbach, der ein Vertreter einer sterbenden Kultur ist. Wie Mann verurteilt auch er Aschenbach und versucht stets, eine ironische Distanz zu seinem Helden zu wahren trotz der Tatsache, daß die Themen aus dessen Perspektive erfaßt werden. Die Frage, ob Schönheit durch die Sinne erfaßt wird oder ein Ergebnis von abstrakter Betrachtung im Sinne eines geistigen Aktes ist, durchzieht sowohl Manns als auch Viscontis Werk. Diese Frage ist entscheidend für Aschenbach, glaubte er doch sein ganzes Leben lang, daß Schönheit nicht durch Sinnlichkeit erreicht werden kann, sondern nur durch den täglichen Kampf eines disziplinierten Geistes. Dies stellt sich als Aschenbachs Doktrin heraus, die sein Lebenswerk sowohl in der Novelle als auch im Film begleitet hat. Sie wird erschüttert, als Aschenbach zum ersten Mal mit seinem Ideal von Schönheit in Gestalt von Tadzio konfrontiert wird, eine Schönheit, die ganz und gar nicht das Ergebnis von Arbeit, sondern von Natur ist. Für Aschenbach bedeutet diese Begegnung eine ästhetische Krise. Sie geht einher mit der Bedrohung der Welt des wohlgeordneten Bürgertums, die durch den Ersten Weltkrieg erschüttert wird. Aschenbachs Tod symbolisiert nicht nur den Tod des klassischen Ideals von Schönheit, sondern ist ein auch Krankheitsbefund und Untergang der so scheinbar schönen bürgerlichen Welt, aus der dieses Schönheitsideal entsprang.13

13 Frances Thompson McKay: Movement in Time and Space: The Synthesis of Music and Visual Imagery in Luchino Visconti’s Death in Venice and Stanley Kubrick’s 2001: A Space Odyssey. Ann Arbor 1982, S. 124.

Erste Seite (i) Vorherige Seite (229)Nächste Seite (231) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 230 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik