- 229 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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jeder Natürlichkeit. Er verfällt der Schönheit und der schuldig-unschuldigen Koketterie des polnischen Knaben. Doch leidet er gleichzeitig unter seiner Unfähigkeit, sich dem Jungen zu nähern oder gar ein Wort mit ihm zu wechseln. Er ist ein Mann der Distanz, der jeden menschlichen Kontakt meidet und jegliches Gefühl leugnet. Dieser Konflikt bringt ihn zu dem Entschluß, sofort abzureisen. Fluchtartig verläßt er den Lido. Am Bahnhof wird sein Gepäck jedoch durch einen Irrtum des Hotels fehlgeleitet. Aufgebracht über den Verlust seines Koffers weigert er sich, Venedig zu verlassen. Noch während er beschließt, zum Lido zurückzufahren, wird er Zeuge, wie ein Mann im Bahnhof tot zusammenbricht. Wieder am Strand des Hotels De Bains reflektiert Aschenbach sein Leben mit seiner Frau und Tochter in den Bergen. Inspiriert von der blendenden Erscheinung Tadzios komponiert er daraufhin ein Stück, das sich in der Novelle später als sein Meisterwerk herausstellt. Doch die unüberbrückbare Distanz zu dem Jungen bringt ihn an den Rand eines Zusammenbruchs. Währenddessen reisen immer mehr Gäste ab. Die Straßen Venedigs durchzieht ein »fataler Geruch«: die Stadt wird desinfiziert. Am Abend tritt eine Gruppe von italienischen Straßensängern auf der Terrasse des Hotels auf, welche die dort versammelte bürgerliche Gesellschaft vulgär und gleichermaßen obszön brüskiert. Als Aschenbach den Sänger nach dem Grund der Desinfizierung Venedigs fragt, will dieser von einer Seuche nichts gehört haben. Am nächsten Tag erfährt Aschenbach in einem Reisebüro, daß die Cholera in Venedig ausgebrochen sei und daß es bereits Tote gegeben hätte. Die Angelegenheit werde des Tourismus wegen vertuscht. Betroffen von dieser Nachricht, entschließt Aschenbach sich dennoch dagegen, die polnische Familie in Kenntnis zu setzen, da er ihre sofortige Abreise und damit auch die Trennung von Tadzio fürchtet. Bei einem Friseur läßt er sich durch Schminke und gefärbte Haare verjüngen. Von nun an folgt er Tadzio und der Familie überall hin auf ihrem Spaziergang durch die schmutzigen und immer morbider werdenden Gassen der Lagunenstadt, in denen überall die infizierten Sachen der Toten verbrannt werden. Doch bald überkommt ihn zunächst eine physische, später auch psychische Müdigkeit, als er erkennen muß, daß er das Gleichgewicht zwischen Mensch und Künstlerexistenz verloren hat und sich nun vollkommen dem Gefühl und der Natürlichkeit hingegeben hat. Über dieser Erkenntnis bricht er an einer Zisterne zusammen. Am nächsten Tag begibt er sich an den Strand. Nach einem nächtlichen Alptraum fühlt er sich nicht wohl. Ein letztes Mal betrachtet er Tadzio, der langsam im seichten Wasser des Meeres dem Sonnenuntergang entgegengeht, bevor Aschenbach tot im Liegestuhl zusammenbricht.

Tod in Venedig thematisiert mehrere Fragen und Motive, die sowohl auf den zeitgenössischen Verhältnissen der literarischen Vorlage basieren, aber auch gemäß den eigenen Gesetzen einer kinematographischen Umsetzung das Gedankengut des Regisseurs reflektieren. Die Themen des Films lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Künstlertum

Der Film thematisiert das Künstlerschicksal im Zwiespalt von Geist und Sinnlichkeit, von Kunst und Alltagsleben mit seiner künstlerischen Motivation, nicht zuletzt auch im übergeordneten gesellschaftlichen Sinne den Gegensatz zwischen dem preußisch geordneten Bürgertum und den »Versuchungen des Abseitigen« – mythologisch ausgedrückt: der Gegensatz zwischen Apollo und Dionysos. Der Film bewegt sich zwischen diesen beiden Göttern. Ein Bezug zu Nietzsches Theorie wird offenbar, die besagt, daß die Kunst die dionysischen Kräfte der Tiefe, der »Befreiung des schrankenlosen Triebes, das Losbrechen der ungezügelten Natur«11

11 Werner Faulstich: Modelle der Filmanalyse. München 1977, S. 19.
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