- 23 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (22)Nächste Seite (24) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

geschildert – den Mitteln der Neuen Musik zuwandten. Diese Stilbewegung hatte Anhänger in mehreren Ländern. In Frankreich handelte es sich um einige in einem Freundeskreis verbundene Komponisten, welche sich als »Groupe des Six« bezeichneten, eine lockere Assoziation von Künstlern in Paris. Hierzu gehörten beispielsweise Darius Milhaud, Arthur Honegger, Francis Poulenc oder Eric Satie; in Deutschland und Österreich zählten zu dieser Richtung auch Hanns Eisler und Kurt Weill sowie die Kompositionen Paul Hindemiths, der in den zwanziger Jahren eine Reihe von Dokumentar- aber auch experimentelle Filme wie die Fischinger-Filme mit Musik unterlegte. Gebrauchsmusik war für Hindemith, wie bereits in den zwanziger Jahren gespöttelt wurde, Verbrauchsmusik. Er vertrat jedoch konsequenter als die anderen die ästhetische Position, nach der er Filmmusik als vom Zweck nicht ablösbar betrachtete und sie – im Gegensatz zu Eisler – daher auch anschließend nicht in den Konzertsaal verlegt hat. Der Grund für diese neue musikdramaturgische Bewegung im Film liegt u.a. in dem völligen Zusammenbruch der Wertevorstellungen nach dem Ersten Weltkrieg. Einer Kunst, die – gemäß der Vorstellungen der autonomen Musik des 19. Jahrhunderts – das Absolute, eine erhabene Weltanschauung zum Ausdruck bringen sollte, mißtraute man nun, da alle Ideale verschwunden waren. Den romantischen Gestus symphonischer Musik empfand man nun als Lüge.33
33 Motte-Haber/Emons 1986, S. 96.
Die Kunst sollte vom »Sockel der Erhabenheit« heruntersteigen und zur »Dienerin« werden. Das Ergebnis war eine funktional definierte Musik, die sich an ihrer Rolle für das Leben und einer neuen Gesellschaftsordnung nach dem Krieg messen mußte. Daher suchte man nach neuen Formen und Gattungen, daher auch der Griff nach den neuen Medien Film und Rundfunk, die neue technische Entwicklungen garantierten, denn diese bestimmten das Leben. Die Musik gerät in das Räderwerk der Technik. Filmmusik wird zu einer neuen, funktionalen Gattung, die eigene Regeln hat. Die absolute Orientierung an dem Eindruck des Bildes ist eine der Hauptforderungen. Kurt Weill schreibt hierzu im Film-Kurier: »Wir brauchen eine sachliche, gleichsam konzertante Filmmusik, ein Gestalten unter dem Eindruck des Films und kein literarisches Illustrieren. Mit einer Musik, die ausschließlich die Ausdrucksmittel einer längst überholten Zeit benutzt, ist an die Lösung des Problems ›Filmmusik‹ nicht heranzugehen.«34
34 Kurt Weill, Film-Kurier, 13. 10. 1927, zit. n. Lothar Prox: »Konvergenzen von Minimal Music und Film.« In: Helga de la Motte-Haber (Hrsg.): Film und Musik. Fünf Kongreßbeiträge und zwei Seminarberichte. Mainz 1993, S. 24.
Eine funktionale Gebrauchsmusik war also mit dem latent noch vorhandenen traditionellen Kunstanspruch nicht kompatibel. Traditionelle musikalische Formen werden daher nahezu aufgelöst durch jene immanente Ton-Bild-Beziehung, beispielsweise die Imitation von Geräuschen durch Musik wie in Arthur Honeggers musikalischer Illustration einer anfahrenden Lokomotive. Motte-Haber geht sogar weiter: das Geräusch ist Musik. Die zum Funktionieren gebrachte Musik stellte alle vormals geltenden Kategorien musikalischen Sinns in Frage. Die Vorliebe der Komponisten galt nicht mehr dem Streichersatz. Musik erhielt eine ungegliederte, gleichförmige Rhythmik, die einen automatischen Ablauf suggeriert. Dementsprechend gewann Filmmusik neue avantgardistische Konturen; sie verhieß Fortschritt, indem sie den »schönen Schein« früherer konventioneller Filmkompositionen, die nach dem Vorbild

Erste Seite (i) Vorherige Seite (22)Nächste Seite (24) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 23 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik