- 226 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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die das Zerbrechen menschlicher Schicksale mit sich bringt. Dies ist, wie bereits erwähnt, auch das vorherrschende Thema seiner Filme: der Untergang des Filmhelden steht stellvertretend für den Untergang einer Epoche auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Umwälzungen,4
4 Karl Aeschbach: »Glanz und Verfall des Lebens. Visconti als Aesthet des Menschlichen.« Cinema 16 (1970) o.S.
die im Verlaufe des Films jedoch nicht bloßer Hintergrund bleiben, sondern durch Visconti bewußt zur Darstellung gebracht werden.

In die dramatisch-erzählerische Perspektive von Viscontis Sozialrealismus mischt sich zwangsläufig die gesellschaftspolitische Kritik. Die Weltanschauung, die er in jedem seiner Film reflektiert, ist geprägt durch Humanität. Der Mensch ist stets der Mittelpunkt der Dramaturgie. Er ist Angehöriger einer Klasse, das Verhältnis der Klassen untereinander bis hin zu einer klassenlosen Gesellschaft ist der Inhalt von Viscontis Filmen. Dem folgt als gesellschaftspolitische Kritik die Analyse der Entfremdung der Klassen untereinander oder des einzelnen Menschen innerhalb seiner Klasse und darauf aufbauend die Sehnsucht des Menschen nach einer Welt, in der Gefühl und Gedanke, übergeordnet mitmenschliche Haltung und soziales Dasein sich im Einklang befinden. Durch diese Fixiertheit auf den Menschen stellt sich Viscontis Weltbild ausschließlich als ein Gesellschaftsbild dar.5

5 Schlappner 1975, S. 24.
Vergleicht man Viscontis Filmhelden seit Bellissima (1951) bis hin zu Ludwig II. (1972), so ergeben sich immer wieder dieselben Gemeinsamkeiten: Livia Serpieri (Senso), Salina (Il Gattopardo/Der Leopard), Aschenbach (Morte a Venezia/Tod in Venedig) oder auch Ludwig (Ludwig II.) werden zu Opfern des Leidenschaftlich-Verzehrenden und des Zerstörerisch-Übermächtigen der menschlichen Natur. Sie alle sind Scheiternde oder Untergehende. Bei aller Sympathie, die Visconti ihnen im Film zuteil werden läßt, sind sie die negativen Helden seiner gesellschaftspolitischen Analyse. Der positive Held ist stets das Volk. Hoffnung im Sinne eines religiösen Verständnisses existiert in Viscontis Filmen nicht. Er entwirft das Prinzip der Hoffnung lediglich als Gegenbild zu einer Klassengesellschaft, die tragisch und schuldhaft verstrickt ist. Die Hoffnung äußert sich daher ausschließlich in der Vision einer gesellschaftspolitisch veränderten, d.h. klassenlosen Gesellschaft, die Zukunft bedeutet. Die Schlüsse der Filme sind hierfür bezeichnend: die Vision einer veränderten Welt wird meist dargestellt in Form von Abschieden bzw. dem Abgang des Filmhelden. Hoffnung und undurchlässiger Zukunftspessimismus stehen sich hier gegenüber. Was den Neorealismus der vierziger Jahre beflügelt hat, ist bis hin zu den späten Filmen Viscontis stets lebendig geblieben: Das Ethos, die Perspektive der geschichtlichen und gesellschaftspolitischen Kritik aufrechtzuerhalten. Der absolute Gesellschaftsbezug ist in den Filmen Viscontis, Antonionis oder Fellinis stark nachvollziehbar. Visconti hat hier großen Einfluß ausgeübt. Nowell-Smith faßt die Prinzipen des italienischen Realismus in seinem filmischen Werk in einem Satz zusammen: »One [thing] is the persistence of part of the general aesthetic of neorealism, its naturalism-with-a-social-conscience, in the minds of many people. The other [thing] is the undeniable fact of Visconti’s connection with the movement and the need to produce a responsible redefinition of this connection. Visconti without neorealism is Lang without Expressionism and Eisenstein without Formalism – and without the Russion Revolution.«6
6 Geoffrey Nowell-Smith: Luchino Visconti. London 1973, S. 9.


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