- 225 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Neorealismus entwickelte in den fünfziger Jahren zwei Linien: die geschichtlich-politische Analyse und den Realismus der psychologischen Ergründung der Lebensvorgänge. Da man die rein politisch und sozial aktuelle Wirklichkeitserfassung nicht mehr für ausreichend erachtete, um den Menschen in seiner Vielschichtigkeit darzustellen, gewann der psychologische Realismus, in dem besonders der persönliche Sinn und das Gefühl des Menschen im Vordergrund stehen, immer mehr an Bedeutung.

Dies gilt jedoch nicht für Visconti. Gegenüber der Spiritualisierung hält Visconti am Sozialrealismus fest, der durch eine dramatisch-erzählerische Perspektive gekennzeichnet ist und geschichtlich-politische und soziale Gegebenheiten der Gesellschaft anhand von Wechselbeziehungen von Charakteren ergründet. Da man in den sechziger und siebziger Jahren nicht mehr von Neorealismus sprach, bezeichnet man heute den Stil der späteren Filme Viscontis, zu denen auch Tod in Venedig gehört, gemeinhin als Realismus der epischen oder dramatischen Erzählung, was besonders auf die oben genannte dramatisch erzählerische Perspektive Viscontis hindeutet. Egal, ob es sich um Stoffe der Gegenwart handelt, wie in Ossessione, La Terra Trema (Die Erde bebt) oder Rocco e suoi Fratelli (Rocco und seine Brüder), oder ob sich Visconti literarisch-historischen Stoffen zuwendet, beispielsweise in Senso, Il Gattopardo (Der Leopard) oder Morte a Venezia (Tod in Venedig): immer geht es Visconti um die Analyse der sozialen Verhältnisse. Trotzdem ist jeder dieser Filme auch gekennzeichnet durch die Schilderung menschlicher Intimitäten, der Liebe und des Hasses.

Analyse und Kritik, Poesie und Drama sind die Schlüsselbegriffe, die Viscontis Filmkunst erfassen. Ihrer Natur nach Widersprüche: doch Viscontis gesamtes Filmschaffen ist geprägt durch jene thematischen Widersprüche, die Widersprüche der menschlichen Natur sind. Es sind auch Gegensätze, die sich in Visconti selbst vereinen: das intellektuelle Engagement und die romantische Verbundenheit mit seinen untergehenden Hauptfiguren. Dazu stößt die sogenannte »Dialektik des historischen Materialismus.«3

3 Schlappner 1975, S. 22.
Dieses Bekenntnis prägt seine Filmkunst in der Weise, daß er in bezug auf die Gegenwart besonders in seinen früheren Filmen stets eine pessimistische Haltung einnimmt, was nicht zuletzt in seiner marxistischen Haltung begründet liegt. So ist der Arbeiter in seinen Film stets das Opfer kapitalistischer Ausbeute. Aber der Arbeiter ist nicht nur Opfer, er befindet sich bereits im Zustand der Revolte – das Ergebnis von Viscontis marxistischer Mythologie, die er in seinen Filmen in Form einer Kritik oder Korrektur – besonders des 19. Jahrhunderts – verwirklicht. Vor diesem Hintergrund des sozialen Realismus vollzieht sich in Viscontis Filmen das Scheitern des Filmhelden. Daß er scheitert, ist notwendig, da für ihn die Zeit abgelaufen ist oder weil er sie nicht begriffen hat. Visconti beschreibt stets einen Heldentypus, dessen Lebensgefühl und Lebenseinsicht nicht mehr mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Aber als der Scheiternde rückt der Regisseur seinen Filmhelden stets in den Mittelpunkt des Interesses. Diesem gegenüber entwirft er das Bild eines Menschen, der sich im Prozeß der sozialen Erkenntnis befindet, der an der »Rettung der Menschen« arbeitet, gestützt auf seine gesellschaftliche Erfahrung. Daraus entsteht für ihn der Wille, seine eigenen Verhältnisse auch zu beeinflussen. Anhand dieser zwei Menschentypen wird deutlich, wie sehr Viscontis Filmkunst zwischen Tradition und Moderne steht – eine Art geistige Bruchstelle,

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