- 224 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Bains auf den Beginn des Diners wartet. Als Bildton dokumentieren sie rein dekorativ das behäbig großbürgerliche Ambiente. Der Schlager mit dem »Lach-Refrain«, wie Thomas Mann ihn selbst in seiner Novelle bezeichnet, wird an einem Abend von einer Gruppe musikalischer Komödianten auf der Terrasse des Hotels gesungen. Beethovens Für Elise wird sowohl in Szene 34 von Tadzio, als auch in Szene 36 von der Prostituierten Esmeralda gespielt und suggeriert eine Charakterisierung der beiden, was bei der Dramaturgie des Films noch näher zu erläutern sein wird. In Szene 53 des Films singt eine russische Touristin am Strand a-capella ein Wiegenlied aus Mussorgskijs Liedern und Tänzen des Todes (1874–1877). Die Themen Mahlers werden im folgenden besonders analysiert.

11.1.1.  Entstehungsgeschichte und Genre

»Was mich zum Film geführt hat«, so schrieb Luchino Visconti am 25. September 1943 in der Zeitschrift Cinema, »das ist vor allem das Bedürfnis, Geschichten von lebendigen Menschen zu erzählen, von Menschen, die inmitten der Dinge leben, und nicht von den Dingen selbst. Das Kino, das mich interessiert, ist ein anthropomorphes Kino.«1

1 Luchino Visconti 1943, zit. n. Martin Schlappner: »Linien des Realismus im italienischen Nachkriegsfilm.« In: Peter W. Jansen/Wolfram Schütte (Hrsg.): Luchino Visconti. Reihe Film 4. München 1975, S. 7.
Ein Jahr zuvor hatte Visconti seinen Film Ossessione (dt. Titel Ossessione - Von Liebe besessen)2
2 Inhalt: Ein wandernder Arbeiter findet in der italienischen Po-Ebene Unterkunft und Beschäftigung bei einem Tankstellenbesitzer, mit dessen junger Frau er ein leidenschaftliches Liebesverhältnis beginnt. Die zunehmend verzweifelte Glückssehnsucht der beiden endet im Mord an dem Ehemann. Die Folgen der Tat zerstören jedoch alle Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft.
gedreht. Dieser signalisierte den Beginn einer Entwicklung des italienischen Films, die unter dem Begriff des Neorealismus zusammenzufassen ist.

Mit Viscontis exakter Milieuzeichnung und seiner differenzierten Moral sowie durch den Einbezug sozialer Verhältnisse und authentischer Schauplätze erschütterte Visconti den bis dahin herrschenden Provinzialismus des italienischen Kinos der vierziger Jahre. Die ungewöhnlich offene und pessimistische Darstellung einer verbotenen Liebe, die an den Konventionen der Gesellschaft scheitert, erregte besonders das Mißfallen der Zensur im Mussolini-Regime. In diesem Film schuf Visconti ein neues Zeitbild. Er wurde zum Maßstab aller folgenden Filme; Authentizität wurde zu einer der Hauptforderungen des italienischen Films.

Der Neorealismus des italienischen Kinos wurde in den vierziger Jahren zunächst charakterisiert durch die Auswahl des Stoffes, der seinen Ursprung in den politischen, sozialen und bürgerlichen Verhältnissen der Zeit hat. Der Regisseur nimmt eine Perspektive ein, aus der er in seinem Film die Wirklichkeit erfassen kann, indem der betreffende Filmstoff in seiner geschichtlichen und dialektischen Bedeutung für die Gegenwart gesichtet und gedeutet wird. Die Wirklichkeit wird jedoch nicht einfach abgebildet, sondern durch die Wechselbeziehung zwischen Menschen, Dingen und Ereignissen sichtbar gemacht. Doch erst aus der Distanz, mit der die Analyse der Wirklichkeit geleistet werden kann, vermag der Regisseur die moralisch-gesellschaftliche Wahrheit in den Griff zu bekommen. Dies hat zur Folge, daß der neorealistische Film auch durch ein nüchternes Pathos der Gewissenserforschung und der Wahrhaftigkeit geprägt wird. Der rein phänomenologische


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