Intellekt, er zeichnet aus dem Gedächtnis, das er »anstatt einer Aussicht« hat. Im
Laufe der Dramaturgie wird er ebenso zum Mittler zwischen Clarice und ihrem
Unterbewußtsein, zu ihrem überväterlichen Mentor. Was Crawford auf der Ebene des
Kriminalfilms ist, erfüllt Lecter auf der psychologischen Ebene. Niemals wird er
persönlich, niemals erleben wir einen affektiven Gefühlsausbruch. Sein Umgangston
ist sachlich, zuweilen überheblich süffisant. Lecters Mimik und Gestik sind
Ausdruck kontrollierter Selbstdisziplin. Der »Sauberkeit« Bachscher Harmonik und
Melodik entspricht in dieser Szene symbolisch Lecters weiße Kleidung. Wie Bachs
Kompositionen ist auch sein Geist absolut klar – und berechnend. Seine Flucht
hat er im Geiste lange eiskalt vorbereitet. Selbst in dem Moment, bevor er
die Beamten angreifen wird, ist er klar, kühl und diszipliniert. Ohne jegliches
Anzeichen von Nervosität oder Hektik tritt er ihnen gegenüber. Selbst, als er
Pembrys Schädel an den Gitterstäben zerschmettert, liegt auf seinem Gesicht
nur eine erschreckend kalkulierte Selbstbeherrschung. »Sein Puls stieg keinen
Augenblick über 85«, so hören wir noch im Geiste Dr. Chilton sagen. Spätestens in
dieser Szene wird deutlich: Bachs Goldberg-Variationen sind nicht nur Spiegel
von Lecters Charakter, sie dienen ihm ebenso zur Inspiration für unermeßliche
Brutalitäten, die er dementsprechend mit absoluter Geistesgegenwärtigkeit und
kontrollierter Entschlossenheit ausführt. Insofern erfolgt eine Semantisierung durch das
Zitat, denn Bach wird für Lecter zu einem Mittel der geistigen und körperlichen
Selbstdisziplinierung32
32 Bach als Sinnbild von kultivierter Disziplin – jedoch in positivem Sinne – begegnet uns
auch in dem Film Out of Rosenheim von Percy Adlon (Deutschland 1987). Auf den
ersten Blick erscheinen die Präludien aus Bachs Wohltemperiertem Klavier (I
C-Dur/II c-Moll und IX E-Dur des ersten Buches) in einem entlegenen Pub in der
hitzeflimmernden Wüste von Nevada völlig fehl am Platze. Doch sind Bachs
Klavierkompositionen hier Spiegel von Jasmins Charakter (Marianne Sägebrecht), die
mit – wie es immer heißt – »deutscher Gründlichkeit und Sauberkeit« Disziplin
in Brendas (CCH Pounder) heruntergekommenen Schuppen und damit auch
Ordnung in deren Leben bringt. Somit agiert Bach in zweiter Instanz auch als
Träger deutschen Kulturgutes. Im Gegensatz zu Schindlers Liste oder Der
Englische Patient sind die Zitate hier jedoch eindeutig positiv besetzt; vgl. Kap.
9.4.
|
,
so daß also neben der intellektuellen ebenso die physiologische Komponente der Musik
betont wird. Übergeordnet fungiert sie als psychologisches Symbol. Insofern wird die Musik
zu einem wichtigen Detail des Lecter-Psychogramms, da sie seinen Charakter affirmativ
widerspiegelt.33
33 In Fritz Langs Film M - Eine Stadt sucht einen Mörder (Deutschland 1930/31)
sind die ersten Takte der Melodie aus Griegs »In der Halle des Bergkönigs«
psychologische Erkennungsmarke des heimtückischen Kindermörders (Peter
Lorre). In Henrik Ibsens dramatischem Gedicht Peer Gynt, zu dem Edvard
Grieg 1876 die gleichnamige Schauspielmusik komponierte, ist die Halle des
Bergkönigs das Reich des Dovre-Alten. Peer Gynt, der sich auf seiner Reise nicht
entscheiden kann, dort zu bleiben, wird schließlich von Hexen und Trollen gejagt. Erst
vor der Gestalt des Todes flüchten die Trolle laut heulend, die Halle stürzt
krachend zusammen. Im Film ist das Thema auf ein bloßes Pfeifen reduziert
– gleich einem Geräusch – das dramaturgisch jedoch ein zentrales Gewicht
bekommt: immer, wenn der Psychopath einem Mädchen begegnet, gerät er
unter den Druck seiner krankhaften Mordgedanken, die sich in einem Pfeifton
äußern, der jedoch mehr wie ein Dampfkessel klingt. In Griegs Original hingegen
manifestiert sich die Spannung in einer berauschenden Steigerung von Tempo und
Dynamik. Das Pfeifen überführt den Mörder; wie Peer Gynt wird er – nicht
von Trollen – sondern von Ganoven durch die Stadt gehetzt, die an ihm das
Lynchurteil vollstrecken wollen. Insofern wird auch hier die Musik zunächst zum
psychologisch affirmativen Spiegel seiner erregten Lust am Töten. Sie ist es, die ihn
letztlich zum gejagten Opfer seiner eigenen krankhaften Begierde macht. Ein
anderes Beispiel: In Adrian Lynes Film Eine verhängnisvolle Affäre (USA 1986)
wartet Alex (Glenn Close) als verschmähte Geliebte eines Abends vergeblich auf
ihren Galan Dan (Michael Douglas), der sich mit Frau und Freunden beim
Bowling vergnügt. Aus der Stereoanlage erklingt die Sehnsuchtsarie »Dormi, amor
mio« der Cho-Cho-San aus Giacomo Puccinis Oper Madame Butterfly (1904).
Diese wartet zuversichtlich auf die Rückkehr ihres Marineoffiziers Pinkerton,
während sie ihr Kind schlafenlegt. Alex ist ebenso von Sehnsucht nach Dan
gepackt, die Arie faßt ihre Gefühle in Töne. Der Kontrast hierzu: die ausgelassene
Stimmung auf der Bowlingbahn, die als Parallelmontage angelegt ist. So wie Alex
sich hier mit der verlassenen Butterfly identifiziert, so fühlt sich auch der an
Aids erkrankte Andy in Jonathan Demmes Philadelphia (USA 1993) mit der
schicksalsgetroffenen Madeleine de Coigny aus Umberto Giordanos Oper André Chénier
(1896) verbunden. Andy erklärt seinem Anwalt (Denzel Washington) den Inhalt der
Arie »La Mamma Morta«. Dabei wird deutlich, daß er in Madeleines Schmerz
seinen eigenen wiederfindet, seine Angst vor dem Tod, seine Einsamkeit und
Machtlosigkeit gegen die tödliche Krankheit und gegen die Diskriminierung
der Gesellschaft. Die emotionsgeladene Stimme der Callas treibt diese Szene
auf einen geradezu mythischen Höhepunkt: »Ich bin das Leben, ich bin das
ewige Vergessen, ich bin die Liebe!« so schmettert die Callas im Grunde die
Botschaft des Films hervor. Andy, inzwischen todkrank, kämpft vor Gericht um sein
Recht auf ein normales Leben. Der Film ist ein Plädoyer für Menschlichkeit
und Toleranz gegenüber den Betroffenen, zugleich Hoffnung für die, die nach
Andy kommen. Auch in diesem Falle fungiert die Musik also im Sinne einer
psychologischen »Ich-Botschaft«, die auf diese Weise ebenso Identifikation schaffen und
dadurch die Berührungsängste des Publikums mit diesem Tabu-Thema unterlaufen
soll.
|
|