- 218 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Intellekt, er zeichnet aus dem Gedächtnis, das er »anstatt einer Aussicht« hat. Im Laufe der Dramaturgie wird er ebenso zum Mittler zwischen Clarice und ihrem Unterbewußtsein, zu ihrem überväterlichen Mentor. Was Crawford auf der Ebene des Kriminalfilms ist, erfüllt Lecter auf der psychologischen Ebene. Niemals wird er persönlich, niemals erleben wir einen affektiven Gefühlsausbruch. Sein Umgangston ist sachlich, zuweilen überheblich süffisant. Lecters Mimik und Gestik sind Ausdruck kontrollierter Selbstdisziplin. Der »Sauberkeit« Bachscher Harmonik und Melodik entspricht in dieser Szene symbolisch Lecters weiße Kleidung. Wie Bachs Kompositionen ist auch sein Geist absolut klar – und berechnend. Seine Flucht hat er im Geiste lange eiskalt vorbereitet. Selbst in dem Moment, bevor er die Beamten angreifen wird, ist er klar, kühl und diszipliniert. Ohne jegliches Anzeichen von Nervosität oder Hektik tritt er ihnen gegenüber. Selbst, als er Pembrys Schädel an den Gitterstäben zerschmettert, liegt auf seinem Gesicht nur eine erschreckend kalkulierte Selbstbeherrschung. »Sein Puls stieg keinen Augenblick über 85«, so hören wir noch im Geiste Dr. Chilton sagen. Spätestens in dieser Szene wird deutlich: Bachs Goldberg-Variationen sind nicht nur Spiegel von Lecters Charakter, sie dienen ihm ebenso zur Inspiration für unermeßliche Brutalitäten, die er dementsprechend mit absoluter Geistesgegenwärtigkeit und kontrollierter Entschlossenheit ausführt. Insofern erfolgt eine Semantisierung durch das Zitat, denn Bach wird für Lecter zu einem Mittel der geistigen und körperlichen Selbstdisziplinierung32
32 Bach als Sinnbild von kultivierter Disziplin – jedoch in positivem Sinne – begegnet uns auch in dem Film Out of Rosenheim von Percy Adlon (Deutschland 1987). Auf den ersten Blick erscheinen die Präludien aus Bachs Wohltemperiertem Klavier (I C-Dur/II c-Moll und IX E-Dur des ersten Buches) in einem entlegenen Pub in der hitzeflimmernden Wüste von Nevada völlig fehl am Platze. Doch sind Bachs Klavierkompositionen hier Spiegel von Jasmins Charakter (Marianne Sägebrecht), die mit – wie es immer heißt – »deutscher Gründlichkeit und Sauberkeit« Disziplin in Brendas (CCH Pounder) heruntergekommenen Schuppen und damit auch Ordnung in deren Leben bringt. Somit agiert Bach in zweiter Instanz auch als Träger deutschen Kulturgutes. Im Gegensatz zu Schindlers Liste oder Der Englische Patient sind die Zitate hier jedoch eindeutig positiv besetzt; vgl. Kap. 9.4.
, so daß also neben der intellektuellen ebenso die physiologische Komponente der Musik betont wird. Übergeordnet fungiert sie als psychologisches Symbol. Insofern wird die Musik zu einem wichtigen Detail des Lecter-Psychogramms, da sie seinen Charakter affirmativ widerspiegelt.33
33 In Fritz Langs Film M - Eine Stadt sucht einen Mörder (Deutschland 1930/31) sind die ersten Takte der Melodie aus Griegs »In der Halle des Bergkönigs« psychologische Erkennungsmarke des heimtückischen Kindermörders (Peter Lorre). In Henrik Ibsens dramatischem Gedicht Peer Gynt, zu dem Edvard Grieg 1876 die gleichnamige Schauspielmusik komponierte, ist die Halle des Bergkönigs das Reich des Dovre-Alten. Peer Gynt, der sich auf seiner Reise nicht entscheiden kann, dort zu bleiben, wird schließlich von Hexen und Trollen gejagt. Erst vor der Gestalt des Todes flüchten die Trolle laut heulend, die Halle stürzt krachend zusammen. Im Film ist das Thema auf ein bloßes Pfeifen reduziert – gleich einem Geräusch – das dramaturgisch jedoch ein zentrales Gewicht bekommt: immer, wenn der Psychopath einem Mädchen begegnet, gerät er unter den Druck seiner krankhaften Mordgedanken, die sich in einem Pfeifton äußern, der jedoch mehr wie ein Dampfkessel klingt. In Griegs Original hingegen manifestiert sich die Spannung in einer berauschenden Steigerung von Tempo und Dynamik. Das Pfeifen überführt den Mörder; wie Peer Gynt wird er – nicht von Trollen – sondern von Ganoven durch die Stadt gehetzt, die an ihm das Lynchurteil vollstrecken wollen. Insofern wird auch hier die Musik zunächst zum psychologisch affirmativen Spiegel seiner erregten Lust am Töten. Sie ist es, die ihn letztlich zum gejagten Opfer seiner eigenen krankhaften Begierde macht. Ein anderes Beispiel: In Adrian Lynes Film Eine verhängnisvolle Affäre (USA 1986) wartet Alex (Glenn Close) als verschmähte Geliebte eines Abends vergeblich auf ihren Galan Dan (Michael Douglas), der sich mit Frau und Freunden beim Bowling vergnügt. Aus der Stereoanlage erklingt die Sehnsuchtsarie »Dormi, amor mio« der Cho-Cho-San aus Giacomo Puccinis Oper Madame Butterfly (1904). Diese wartet zuversichtlich auf die Rückkehr ihres Marineoffiziers Pinkerton, während sie ihr Kind schlafenlegt. Alex ist ebenso von Sehnsucht nach Dan gepackt, die Arie faßt ihre Gefühle in Töne. Der Kontrast hierzu: die ausgelassene Stimmung auf der Bowlingbahn, die als Parallelmontage angelegt ist. So wie Alex sich hier mit der verlassenen Butterfly identifiziert, so fühlt sich auch der an Aids erkrankte Andy in Jonathan Demmes Philadelphia (USA 1993) mit der schicksalsgetroffenen Madeleine de Coigny aus Umberto Giordanos Oper André Chénier (1896) verbunden. Andy erklärt seinem Anwalt (Denzel Washington) den Inhalt der Arie »La Mamma Morta«. Dabei wird deutlich, daß er in Madeleines Schmerz seinen eigenen wiederfindet, seine Angst vor dem Tod, seine Einsamkeit und Machtlosigkeit gegen die tödliche Krankheit und gegen die Diskriminierung der Gesellschaft. Die emotionsgeladene Stimme der Callas treibt diese Szene auf einen geradezu mythischen Höhepunkt: »Ich bin das Leben, ich bin das ewige Vergessen, ich bin die Liebe!« so schmettert die Callas im Grunde die Botschaft des Films hervor. Andy, inzwischen todkrank, kämpft vor Gericht um sein Recht auf ein normales Leben. Der Film ist ein Plädoyer für Menschlichkeit und Toleranz gegenüber den Betroffenen, zugleich Hoffnung für die, die nach Andy kommen. Auch in diesem Falle fungiert die Musik also im Sinne einer psychologischen »Ich-Botschaft«, die auf diese Weise ebenso Identifikation schaffen und dadurch die Berührungsängste des Publikums mit diesem Tabu-Thema unterlaufen soll.

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