- 211 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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demonstriert dieselbe abgeklärte Ruhe. Durch Akkordbrechungen und Doppelgriffe entsteht der Eindruck, als seien mehrere Stimmen latent beteiligt, die miteinander gleichberechtigt verwoben sind17
17 Frieder Zschoch/Hansjürgen Schaefer/Hans-Joachim Schulze/Karl Heller: Johann Sebastian Bach. 1685–1750. Mainz/London/New York 1984, S. 184.
– so wie die Gesichter der beiden Frauen unentrinnbar in Großaufnahmen zusammengezwängt werden. Der Stimmenaustausch in der Musik wird in der verbalen Auseinandersetzung der beiden Frauen konkretisiert, in der sie sich nun als gleichrangige Kontrahentinnen gegenüberstehen und sich gegenseitig mit bedeutungsschweren Erkenntnissen bekämpfen, wobei die Mutter letztlich unterliegt. Eva ist nicht länger die unmündige weinerliche Klavierschülerin, im Gegenteil: lange hat sie auf diese Auseinandersetzung gewartet, durch ihre nagenden Erinnerungen ist sie stark geworden. Ihre Anklage ist unversöhnlich und endgültig, der Zuschauer wird zum Richter.

Auf diese Weise agiert Bachs Cellosuite ebenso wie Chopins Werk auf der semantischen Ebene durch ihre musikalische Struktur und ihren klanglichen Charakter. Chopins Prélude erklingt im dramaturgischen »Vorspiel« zweimal, um die jeweils unterschiedlichen Charaktere von Mutter und Tochter gegenüberzustellen; sie sind noch nicht in der Lage, im direkten Schlagabtausch miteinander zu kommunizieren, als Medium benötigen sie hier noch das Klavier. Anders ist es im nächtlichen Showdown: hier sprechen sie direkt miteinander, ihre Stimmen vereinigen sich bildlich in der Cellosuite zu einem erregten Diskurs, der letztlich zu einem Aufruf Bergmans zu absoluter zwischenmenschlicher Aufrichtigkeit wird, in der Worte das sagen, was sie bedeuten. Indem die Musik zu einem äußeren Mittel der inneren Bewegungen der Charaktere, zu einer Reflexion der individuellen Seelenlandschaften wird, gebührt sie der grundlegenden Thematik des Films, der gestörten Kommunikation. Musik sagt mehr als Worte, die im Film zunächst Auswüchse eines eitlen Intellekts sind – überschwenglich höflich, jedoch nicht der Wahrheit entsprechend. Dieser Einsatz von Musik korrespondiert mit Bergmans Philosophie: »I would say that there is no art form that has so much in common with film as music. Both affect our emotions directly, not via the intellect.«18

18 Ingmar Bergman 1960, zit. n. Egil Törnqvist: Betwenn Stage and Screen. Ingmar Bergman Directs. Amsterdam 1995, S. 160.
Somit fungieren beide Zitate durch ihren musikalischen Kontext psychologisch affirmativ, zugleich dramaturgisch syntaktisch, indem sie sich dem Rhythmus des Films anpassen. Dennoch ist Bergmans poetischer Realismus zu subtil, um Chopin oder Bach abgesehen von der individuellen Szene im Sinne eines »ewigen Stempels« semantisch neu aufzuladen. Dafür sind die Zitate letztlich doch zu austauschbar, die Musikgeschichte bietet eine große Auswahl melancholischer Stücke, durch die man die anatomische Tiefe von seelischer Not und übermächtiger Kontrolle zugleich ausdrücken kann. Ein dramaturgisches Etikett kann auch gar nicht das Ziel sein. Die Dramaturgie rückt die Musik ins Zentrum des Geschehens, sie konturiert das Leinwandereignis mit psychologischen Nuancen. Der Film seinerseits nutzt die musikalische Semantik, um sie in seinen kontinuierlichen Dialog einzubauen, um neue Erkenntnisse über diese Mutter-Tochter-Beziehung zu reflektieren. Dabei erfüllt die Musik die Rolle eines selbständigen bedeutenden Handlungsträgers, denn nur in diesen Szenen »geschieht etwas«, das durch Sprache, Mimik und Gestik lediglich aufgefangen und

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