»Die Bedeutung der Gattung ist in funktionaler Musik größer und substantieller
als in autonomer: Sobald ein Zweck, der durch Musik erfüllt werden soll,
zu bestimmten Satzstrukturen und Kompositionstechniken in eine Beziehung
gebracht wurde, die sich zur tradierbaren Norm verfestigte, entstand eine
Gattung, während ein Stück Abhängigkeit von einer Gattungs-Tradition zu
bestehen vermag.«30
30 Carl Dahlhaus: »Gattung.« In: Carl Dahlhaus/Hans Heinrich Eggebrecht: Brockhaus
Riemann Musiklexikon, Bd. 2. Mainz 1992b, S. 102.
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Daher ist Motte-Haber gemäß der Begriff der »Gattung« zumindest für eine
vordergründige Definition der Filmmusik durchaus zulässig, da Filmmusik ganz einfach
durch ihre Verwendung beim Film bestimmt ist. Wie bei aller funktional gebundenen
Musik ist für Motte-Haber eine die Filmmusik isolierende, an ihrer Machart orientierte
Betrachtung zweitrangig, da sich ihr Sinn erst durch den filmischen Kontext konstituiert,
aus ihrem Zusammenhang mit dem Bild, aus ihrer Leistung für die Handlung und aus
ihrer Wirkung auf den Kinobesucher.
Motte-Habers Orientierung an dem Begriff der musikalischen Gattung bestätigt sich
bei ihrer gesamten Definition von Filmmusik, denn sie ist bestimmt durch die
Annäherung bzw. durch die Abgrenzung zur autonomen Musik – einer Musik, die auf
keinen unmittelbaren Zweck gerichtet nur um ihrer selbst willen komponiert ist. Die
Analyse von Funktionen wurde nicht nur am Beispiel der Filmmusik an Maßstäben der
autonomen Musik gemessen. Das gleiche gilt auch für den Schlager oder die Popmusik.
Doch führte dies häufig zu negativen Einschätzungen, die »keine Form, kein Stil, keine
Entwicklung« besagten. So sind analytische Bemühungen auch im Falle der Filmmusik,
definiert als »angewandte Musik«, oft vom Wunsch beflügelt, den traditionellen, am
Kunstwerk orientierten Musikbegriff zu suspendieren, um eine Ehrenrettung
funktionaler Musik zu erbringen. Diese gewaltsame Trennung hält die Autorin
für unsinnig. Wichtiger sei es hier, auf die Relativität aufmerksam zu machen,
die man mit dem Inhalt eines Musikbegriffes verbindet. Die Vorstellung von
autonomer Musik als einer zwecklosen reinen Instrumentalmusik als Kunst, die
eine Welt für sich darstellt, hat sich erst mit der Durchsetzung bürgerlicher
Wertvorstellungen im 19. Jahrhundert entwickelt. Im Falle der Filmmusik sei es zwar
leichter, die allumfassende Bedeutung der autonomen Musik am Filmmusikbegriff
einzuschränken als ein neues Instrumentarium zur Beschreibung einzuführen, doch geht
es de la Motte-Haber nicht um eine Übernahme von traditionellen Kriterien
für Filmmusik, sondern um Relation – um Annäherung und Abgrenzung –
zwischen Filmmusik und autonomer Musik, um den Begriff der Filmmusik zu
charakterisieren.
Filmmusik einerseits gemäß den herkömmlichen Kriterien autonomer Musik zu
behandeln, wobei besonders die Ideen des Zusammenhangs und des Ausdrucks bemüht
werden, ist für de la Motte-Haber auch deshalb notwendig, weil Filmkomponisten sich
lange Zeit an dem orientierten, was sie gelernt hatten. Da es zunächst noch keine Regeln
für die Verbindung der visuellen mit der akustischen Ebene gab, orientierten sie sich bei
ihrer Arbeit an den Regeln autonomer Musik. Hollywoods Komponisten hatten mindestens
bis in die fünfziger Jahre hinein den Ehrgeiz, nicht hinter der Konzertsaalmusik
zurückzubleiben.31
31 Motte-Haber/Emons 1986, S. 81–82.
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Andererseits sind neue Kriterien
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